Es wäre wohl übertrieben zu behaupten, dass 2021 ein rundum gutes Jahr war, aber zwischendrin gab es doch ein paar Dinge, die nicht ganz schlecht waren: Für mich zählten dazu nicht zuletzt die Feldhamster am St. Marxer Friedhof, die mir bei meinen zahlreichen Friedhofsbesuchen immer wieder eine Aufheiterung boten.
Dass es auf einigen Wiener Friedhöfen, allen voran auf dem Zentralfriedhof, Feldhamster-Populationen gibt, ist schon lange bekannt. Es gibt darüber sogar einen wunderbaren Videoclip der BBC, mit dem legendären Sir David Attenborough als Sprecher, den ich nur wärmstens empfehlen kann.
Auf dem St. Marxer Friedhof sind mir in früheren Jahren bei meinen doch nicht ganz seltenen Besuchen aber nie Feldhamster aufgefallen. Im heurigen April sah ich dann plötzlich etwas zwischen den Grabreihen durchs Gras huschen. Zuerst dachte ich: eine Maus, dann aufgrund der Größe: vielleicht doch eine Ratte, aber schließlich erkannte ich: ein Hamster! Das Erlebnis wiederholte sich bei meinen nächsten Besuchen, und die Hamster schienen mit jedem Mal mehr zu werden.
Vor allem, wenn ich früh am Morgen auf den Friedhof ging, wuselte es regelrecht von den Tierchen. Man sah sie im hohen Gras, halb versteckt unterm Efeu oder unter halbverfallenen Grabeinfassungen hervorlugen. Einer der Hamster hatte seinen Bau gleich neben dem Eingang und blickte mir meist schon entgegen, kaum dass ich durchs Tor trat.
Es kann natürlich sein, dass mir die Feldhamster in St. Marx früher einfach nie aufgefallen sind. Plausibler erscheint mir aber, dass es sich wirklich um eine neue Population handelt. Für diese Annahme spricht auch, dass es von der Stadt Wien einen Übersichtsplan mit den Verbreitungsgebieten der Feldhamster in der Stadt gibt – der St. Marxer Friedhof darauf aber (noch) nicht eingezeichnet ist. Dass es in den letzten zwei Jahren aufgrund von Lockdowns und Reisebeschränkungen sicher weniger Besucher:innen als sonst auf dem Friedhof gab, könnte eine Neuansiedlung der Tiere begünstigt haben.
Wie dem auch sei, in meinen persönlichen Annalen ist 2021 als das Jahr des Hamsters verbucht. – Jetzt sind die Tiere im Winterschlaf, aber mal schauen, wie’s im nächsten Jahr weitergeht …
[Alle Fotos in diesem Beitrag entstanden zwischen Juni und Oktober 2021 auf dem St. Marxer Friedhof.]
Ende des vergangenen Jahres schrieb ich hier eine kleine Serie über Werke von Bildhauerinnen am Wiener Zentralfriedhof. Ich schloss mit der Ankündigung, die Serie in unregelmäßigen Abständen fortzusetzen, und heute ist es nun so weit: Es geht weiter mit dem Grabmal für Ignaz Jakob Heger, für das Irma Stuart Willfort (1882–1969) ein Porträtmedaillon des Verstorbenen schuf.
Wien, Zentralfriedhof, Grabmal Ignaz Jakob Heger, 1909
Der 1808 in Böhmen geborene Heger kam 1833 nach Wien, wo er sein in Olmütz begonnenes Studium der Rechte abschloss und in der Folge als Justiz- und Verwaltungsbeamter tätig war. Daneben erlernte er im Selbststudium die Stenographie und begann bald, die von Franz Xaver Gabelsberger entwickelte Kurzschrift als Privatlehrer zu unterrichten. 1842 gründete er schließlich die erste Schule für Stenographie in Wien und trug damit wesentlich zu deren Verbreitung in der Habsburgermonarchie bei – und zwar über den deutschen Sprachraum hinaus, denn zu Hegers Verdiensten zählte nicht zuletzt die Entwicklung einer Kurzschrift nach Gabelsbergers System für die tschechische Sprache.
Nach seinem Tod im Mai 1854 wurde Heger im Matzleinsdorfer Friedhof bestattet. Auf Betreiben des Gabelsberger-Stenographenzentralvereins in Wien wurde ihm 1907 jedoch vom Stadtrat ein Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof zugesprochen. Die Umbettung seiner sterblichen Überreste erfolgte schließlich im November 1909, und am 27. des Monats wurde in einem großen Festakt das für die neue Begräbnisstätte geschaffene Grabmal feierlich enthüllt.
Das von der Steinmetzfirma Wilhelm Lovrek geschaffene Monument besteht aus schwarzem schwedischen Granit. Einen großen Teil des Denkmals nimmt eine ausführliche Inschrift ein, die in goldenen Lettern sämtliche Verdienste des Verstorbenen auflistet.
Wien, Zentralfriedhof, Grabmal Ignaz Jakob Heger, 1909
Über der Inschrift prangt ein Porträtmedaillon aus weißem Carrara-Marmor. Es stammt – wie schon eingangs gesagt – von der Bildhauerin Irma Stuart Willfort. Das Bildnis wirkt ausgesprochen lebensecht und naturalistisch, auch wenn die weiche Modellierung die Prägung durch den impressionistischen Skulpturenstil jener Zeit verrät.
Wien, Zentralfriedhof, Grabmal Ignaz Jakob Heger, 1909
Das Porträtmedaillon entstand freilich mehr als ein halbes Jahrhundert nach Hegers Tod und wurde daher natürlich nicht nach dem lebenden Modell, sondern nach einer älteren Vorlage gestaltet; vielleicht nach dem (ebenfalls posthumen) Bildnis, das Jan Vilímek 1884 für die Literaturzeitschrift Zlatá Praha schuf. Im Vergleich fällt auf, dass Stuart Willfort das Gesicht etwas breiter wiedergab als die (mögliche) Vorlage, vielleicht einfach, damit es sich harmonischer in die runde Rahmenform einfügt.
Jan Vilímek, Porträt von Ignaz Jakob Heger, 1884 Bildquelle: Wikimedia Commons
Als das Grabmal für Heger entstand, war Irma Stuart Willfort gerade dabei, sich als Porträtmedailleurin einen Namen zu machen. – Die 1882 geborene Künstlerin war die Tochter des Schriftstellers und Journalisten Ferdinand Willfort, der lange Zeit Redakteur der Wiener Tageszeitung Das Vaterland war. (Über ihre Mutter konnte ich leider keine Informationen finden, außer dass ihr Vorname Emma war.) Die Familie lebte offenbar in gehobenen Verhältnissen, denn sie besaß eine Villa am Wiener Stadtrand, in Gersthof, die die Bildhauerin auch nach dem Tod des Vaters weiter bewohnte.
1909 trat Irma Stuart Willfort erstmals mit einer Reihe kleiner Porträtmedaillons an die Öffentlichkeit, denen die Internationale Sammlerzeitung im Aprilheft einen knappen, aber äußerst wohlwollenden Artikel widmete. Dem nur mit »―r.« gezeichneten Beitrag lässt sich entnehmen, dass Stuart Willfort ihre künstlerische Ausbildung bei Arthur Strasser erhalten hatte. Das legt nahe, dass sie an der Wiener Kunstgewerbeschule (der heutigen Angewandten) studierte, wo Strasser die Bildhauerei-Klasse unterrichtete.
Einen alten kunsthistorischen Topos aufgreifend, fährt der Artikel dann fort: »Ihre zweite große Lehrmeisterin war die Natur, deren Spuren sie emsig und mit Hingebung nachging und die sie davor schützte, fremde Art nachzuahmen und dem Banne dieser zu verfallen. (…) Ohne rechts oder links zu sehen, ohne mit dieser oder jener ‚Richtung‘ zu liebäugeln, hat sie geradeaus den Blick auf die Natur gerichtet, einzig ist immer das ganze Streben darauf gerichtet, wenn sie ein Porträt schafft, auf diesem auch gleich die ganze Persönlichkeit herauszuholen. Ihre Technik ist frei und wird auch im Kleinen niemals kleinlich und niemals ängstlich. Es ist Frische und Kühnheit in ihr. Ganz bemerkenswert ist ihre Charakterisierungskunst. Ihre Bildnisse leben förmlich.«
Der Text endet mit dem Hinweis, dass sich die Künstlerin bereits »weiterer schöner Aufträge zu erfreuen« habe. Vermutlich zählte dazu auch schon das Porträtmedaillon für das Heger-Grabmal.
In den folgenden Jahren, bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, war Irma Stuart Willfort regelmäßig mit Statuetten, Studien- und Porträtköpfen in verschiedenen Ausstellungen vertreten, vor allem im Österreichischen Künstlerbund, dessen Mitglied sie war. Besondere Aufmerksamkeit erlangte sie, dank des prominenten Sujets, mit einem Doppelbildnis von Kronprinz Otto von Habsburg und seiner Schwester Erzherzogin Adelheid. Die laut einer zeitgenössischen Beschreibung »in zarten Farben keramisch ausgeführt[e]« Zweifigurengruppe entstand 1917 anlässlich des sechsten Hochzeitstags von Kaiser Karl und Kaiserin Zita.
Irma Stuart Willfort, Doppelporträt Otto und Adelheid von Habsburg, 1917 [aus: Sport & Salon, 21. Oktober 1917, S. 5 Bildquelle: Österreichische Nationalbibliothek/ANNO]
Das, soweit ich sehe, einzige heute noch hin und wieder erwähnte oder sogar abgebildete Werk der Bildhauerin ist hingegen eine Porträtbüste des Schriftstellers Josef Weinheber aus dem Jahr 1916. Der junge Dichter verkehrte damals häufig in Stuart Willforts Gersthofer Villa und hatte sogar eine kurze, doch recht intensive Beziehung mit der Bildhauerin. Die zehn Jahre ältere Künstlerin brach die Sache aber relativ bald wieder ab, nicht zuletzt, heißt es, aufgrund des Altersunterschieds. Für ihren »Nachruhm«, sofern man davon überhaupt sprechen kann, ist die kurze Beziehung aber von zentraler Bedeutung: Wenn Stuart Willforts Name heute noch Erwähnung findet, dann fast nur noch als Fußnote oder Randnotiz in der Weinheber-Literatur.
Obwohl Irma Stuart Willfort als Bildhauerin durchaus erfolgreich war, konnte sie, wie es scheint, nicht von ihrer Kunst leben – oder zumindest nicht so leben, dass sich der Erhalt einer Villa in Gersthof ausging. Ab 1911 finden sich in Wiener Zeitungen nämlich immer wieder Annoncen, in denen ein (oder mehrere) Zimmer ihrer Villa in der Ferrogasse zur Miete angeboten werden. Um einen Zuverdienst zu haben, gab die Künstlerin offenbar auch Unterricht. Jedenfalls erschien im Neuen Wiener Tagblatt vom 15. Oktober 1911 folgendes Inserat: »Von Paris zurückgekehrt, erteilt Modellier- und Zeichenunterricht zu mäßigen Preisen I. St. Willfort, 18. B., Ferrogasse 3.«
Von besonderem Interesse ist hier der Hinweis auf einen vorangegangenen Paris-Aufenthalt. Seine Hervorhebung in der Annonce suggeriert, dass Stuart Willfort sich dort künstlerisch fortbildete, doch konnte ich dazu leider keine weiteren Details finden. In jedem Fall bot ihr die Reise aber wohl Gelegenheit zu einem Familienbesuch, denn einer ihrer Brüder – der Klaviervirtuose, Komponist und Musikpädagoge Egon Stuart Willfort – lebte seit 1909 in der französischen Hauptstadt.
Sind die Quellen zu Irma Stuart-Willforts Leben und Werk schon für die Zeit bis 1918 eher spärlich, so versiegen sie nach dem Ende des Ersten Weltkriegs fast völlig. Es scheint, dass sie in der Zwischenkriegszeit hauptsächlich als Keramikerin tätig war. Zumindest handelt es sich bei allen ihrer Werke aus jenen Jahren, die ich bislang finden konnte, um keramische Arbeiten. (Siehe hier, hier und hier.) Neben künstlerischen Gründen könnten auch komerzielle Überlegungen eine Rolle in dieser Hinwendung zur Keramik gespielt haben: Die Auftragslage für Bildhauer:innen war in den wirtschaftlich schwierigen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg denkbar schlecht, und viele sahen sich daher gezwungen, sich auf kleinformatige Deko-Objekte zu verlegen, da diese besser vermarktbar waren.
Über Irma Stuart Willforts späteres Leben konnte ich dann überhaupt nicht mehr in Erfahrung bringen, als dass sie hochbetagt im Jahr 1969 verstarb. Um ein klareres Bild von ihrer Biographie zu gewinnen, ist also noch einiges an Recherche vonnöten. Auch für ihre Werke gilt fast ausnahmslos: Verbleib unbekannt. In den Katalogen der großen öffentlichen Sammlungen Wiens (Wienmuseum, MAK, Belvedere) scheint jedenfalls keine ihrer Arbeiten auf. Immerhin gibt es auf einer Website zu Josef Weinheber den Hinweis, dass sich Stuart Willforts Porträtbüste des Dichters heute im Bezirksmuseum Ottakring befinde. Ich hatte allerdings noch keine Gelegenheit, die Richtigkeit dieser Angabe zu überprüfen. Sicher kann ich jedoch sagen, dass sich das Heger-Grabmal am Zentralfriedhof tagsüber uneingeschränkt und bei freiem Eintritt besichtigen lässt. Interessierte finden es in der Reihe 0, das ist an der Mauer, links vom Haupteingang. Nur ein paar Meter weiter befindet sich übrigens das weit spektakulärere Wilda-Grabmal von Hella Unger, um das es im vorigen Teil dieser Serie ging. Das lässt sich bei einem Besuch also wunderbar kombinieren.
Jetzt, wo der April sich allmählich seinem Ende zuneigt, beginnt am St. Marxer Friedhof schon alles zu grünen und zu blühen, nur die berühmte Fliederblüte lässt heuer noch ein wenig auf sich warten. Aber natürlich gibt es auch sonst jede Menge Sehenswertes, und bei meinen letzten Besuchen ist mir manches Neue ins Auge gestochen: Schwanzmeisen und Feldhamster zum Beispiel, die mir zuvor noch nie am Friedhof begegnet waren.
Was mir in letzter Zeit aber ganz besonders aufgefallen ist, sind die vielen kleinen Gesichter an den Grabdenkmälern. Nicht die Gesichter der eigentlichen Grabfiguren, der großen Engel und Genien, sondern die winzigen, maskenhaften Gesichter, die als Architekturschmuck in Giebel und Zwickel der Grabsteine eingepasst sind und oft nur hervorstechen, wenn gerade zufällig ein Sonnenstrahl auf sie fällt. Hier eine kleine Auswahl davon:
Als ich letzten Oktober, zum ersten Mal nach längerer Abwesenheit, wieder den St. Marxer Friedhof besuchte, vermisste ich eines seiner bedeutendsten Grabdenkmäler: jenes des russischen Generals Alexander Ritter von Yermoloff.
Grabmal Yermoloff, St. Marxer Friedhof, Wien (Foto: 30. Okt. 2011)
Yermoloff hatte sich nach seiner Pensionierung in Wien niedergelassen und mehrere Herrschaften in Niederösterreich, darunter Schloss Frohsdorf in Lanzenkirchen, erworben. Nach seinem Tod im Frühjahr 1835 erhielt er ein standesgemäßes Grabmal in St. Marx. Der Schriftsteller und Topograf Adolf Schmidl bezeichnete es 1838 als „das großartigste Monument“ des ganzen Friedhofs.1 Nun aber stand ich an dem Ort, wo es sich eigentlich befinden sollte, und fand an seiner Stelle – eine Baustelle.
Grabmal Yermoloff, St. Marxer Friedhof, Wien (Foto: 10. Okt. 2020)
Offenbar war man gerade dabei, das Denkmal einer umfassenden Restaurierung zu unterziehen. Immerhin der Sockel und das Fundament ragten noch, frisch aufgemauert, aus der Erde. Von der quadratischen, an einen Sarkophag gemahnenden Stele im Zentrum des Monuments stand jedoch nur der untere Teil aufrecht an seinem Platz. Der obere Abschluss, der die Form einer getreppten Pyramide hat, lag auf einigen Paletten daneben.
Grabmal Yermoloff, St. Marxer Friedhof, Wien (Foto: 10. Okt. 2020)
Was völlig fehlte, war indes die fast lebensgroße Skulptur, die üblicherweise an der Stele lehnt. Ich konnte nur vermuten, dass sie sich gerade irgendwo in einer Restaurierungswerkstätte befand.
Als ich vierzehn Tage später erneut für einen Spaziergang auf den Friedhof zurückkam, war sie aber schon wieder an Ort und Stelle, und auch die übrigen Teile des Grabmals waren wieder zusammengefügt.
Grabmal Yermoloff, St. Marxer Friedhof, Wien (Foto: 25. Okt. 2020)
Grabmal Yermoloff, St. Marxer Friedhof, Wien (Foto: 25. Okt. 2020)
Wiederum knapp zwei Wochen darauf fand ich auch das niedrige Gitter, das das Monument umschließt, zurück an seinem Platz und dem Anschein nach frisch gestrichen. Das frisch restaurierte Denkmal präsentierte sich nun wieder so strahlend und blank wie zuletzt wohl bei seiner Aufstellung im Jahr 1835 …
Grabmal Yermoloff, St. Marxer Friedhof, Wien (Foto: 6. Nov. 2020)
Grabmal Yermoloff, St. Marxer Friedhof, Wien (Foto: 6. Nov. 2020)
Im Gegensatz zu den zuletzt hier vorgestellten Denkmälern in St. Marx stammt das Yermoloff-Grabmal nicht aus serieller Produktion, sondern ist ein hochwertiges Einzelstück von einem namhaftem Künstler. Es wurde von Johann Nepomuk Schaller (1777–1842), einem der wichtigsten österreichischen Bildhauer des Biedermeier, geschaffen. Schaller hatte unter anderem bei Franz Anton von Zauner studiert und sich später in Rom bei Antonio Canova und Bertel Thorvaldsen fortgebildet. Seine bekanntesten Werke sind das Andreas Hofer-Denkmal in der Innsbrucker Hofkirche und die Figur der Hl. Margarete am Margaretenbrunnen in Wien. Die Schwerpunkte von Schallers Œuvre bilden jedoch Porträtbüsten (u. a. für das österreichische Kaiserhaus) und Figuren bzw. Figurengruppen nach antiken Sujets, darunter ein Verwundeter Krieger, ein Jugendlicher Amor und Bellerophon im Kampf mit der Chimaira (alle drei heute im Wiener Belvedere).
Wie die zuletzt gelisteten Werke orientiert sich die Grabfigur für Yermoloff sowohl thematisch als auch stilistisch an der klassischen Antike. Die Skulptur zeigt einen geflügelten Todesgenius, ein Motiv, das in der Kunst der alten Griechen und Römer entwickelt und im Klassizismus des späten 18. Jahrhunderts wiederaufgegriffen worden war. Auch noch im Biedermeier zählten solche Todesgenien zu den Standards der Friedhofskunst, meist wie hier mit einer gesenkten, verlöschenden Fackel als Symbol des erloschenen Lebens in der Hand. Allein in St. Marx findet man bis heute zahlreiche Figuren dieser Art – aber kaum eine ist so groß und so qualitätsvoll wie jene von Schaller.
Grabmal Yermoloff, St. Marxer Friedhof, Wien (Foto: 25. Okt. 2020)
So wie sie sich heute präsentiert, hat die Skulptur am Yermoloff-Grab freilich auch ihre Schwächen. Besonders das Gesicht wirkt merkwürdig schematisch und weniger lebendig, als man es von Schallers übrigen Arbeiten gewohnt ist. Es gehört allerdings auch gar nicht zum Originalbestand des Monuments: Noch 1977 schrieb Selma Krasa-Florian in ihrer Monographie über Schaller, dass der Grabfigur „Kopf und beide Hände fehlen“.2 Gleichzeitig wies sie darauf hin, dass die Figur in der Linken einen Kranz gehalten haben dürfte, von dem noch Ansätze am Gewand zu erkennen seien.
Kopf und Hände wurden irgendwann in den letzten 40 Jahren ergänzt, der Kranz fehlt bis heute. Weit schwerer wiegt jedoch ein anderer Verlust: Wie der schon eingangs zitierte Adolf Schmidl 1838 festhielt, gehörten zu dem Denkmal ursprünglich auch wertvolle Metallarbeiten, von denen schon lange jede Spur fehlt. So heißt es bei Schmidl über das Yermoloff-Grab:
„Der Granitsarkophag enthält auf den vier Seiten Tafeln von Goldbronze, welche das ausdrucksvolle Bildnis des Verstorbenen, dessen Wappen und die Epitaphien in deutscher und russischer Sprache enthalten. Geschmackvolle Verzierungen von grüner Bronze sind an den Ecken und dem Sarkophagdeckel angebracht, auf welchem sich ein Kreuz erhebt, gleichfalls von grüner Bronze. An das Denkmal lehnt sich die lebensgroße Gestalt des Genius des Todes.“3
Grabmal Yermoloff, St. Marxer Friedhof, Wien (Foto: 6. Nov. 2020)
Auch wenn das Monument nach der eben abgeschlossenen Restaurierung dem Augenschein nach „wie neu“ dasteht, so zeigt ein Blick in die schriftliche Überlieferung also, dass das heute Sichtbare keineswegs dem Originalzustand entspricht. Man könnte sogar sagen: Mit den Inschriftentafeln und dem Porträtrelief des Verstorbenen sind die eigentlichen Kernelemente des Erinnerungsmals verlorengegangen, und alles was noch erhalten ist, fällt bloß in die Rubrik ‚schmückendes Beiwerk‘.
Hübsch ist das Denkmal aber natürlich auch in seiner jetzigen, fragmentarischen Form, und da für die Restaurierungsarbeiten einige der umliegenden Sträucher entfernt werden mussten, verschwindet es nun auch nicht mehr wie zuvor in einem Blättermeer, sondern bildet wieder einen echten Blickfang auf dem Weg durch den Friedhof.
Grabmal Yermoloff, St. Marxer Friedhof, Wien (Foto: 3. Dez. 2020)
1. Adolf Schmidl, Wien’s Umgebungen auf zwanzig Stunden im Umkreise. Nach eigenen Wanderungen geschildert, Wien 1838, Band 2, S. 66. ↩
2. Selma Krasa-Florian, Johann Nepomuk Schaller 1777-1842. Ein Wiener Bildhauer aus dem Freundeskreis der Nazarener,Wien 1977, S. 125. ↩
3. Schmidl, Wien’s Umgebungen (wie Anm. 1), S. 66. ↩
Es ist fast schon so etwas wie eine Tradition, dass ich in den ersten Tagen eines neuen Jahres einen ausgiebigen Friedhofsspaziergang unternehme. Meist fahre ich dazu auf den Wiener Zentralfriedhof; da ich aber pandemiebedingt gerade öffentliche Verkehrsmittel meide, drehte ich heuer zur Abwechslung eine Runde am St. Marxer Friedhof, den ich von meiner Wohnung bequem zu Fuß erreiche. Das trifft sich aber ohnehin gut: Ein Blick in den Entwürfe-Ordner des Blogs zeigt nämlich, dass der Januar ganz im Zeichen von St. Marx stehen wird. Gleichsam zur Einstimmung auf die kommenden Beiträge hier daher eine kleine Bilderstrecke vom heutigen Spaziergang.
Weihnachtlich geschmücktes Grab am Simmeringer Friedhof, Wien (Dez. 2011) [im Hintergrund das neugotische Rinnböck-Mausoleum]
Es ist in Wien nicht unüblich, dass man zu Weihnachten auch die Gräber seiner Lieben festlich dekoriert – mit Kerzen, Kränzen, Gestecken und sogar mit Weihnachtsbäumen. Nur am St. Marxer Friedhof sucht man solchen Schmuck zumeist vergeblich. Zu lange sind die hier Begrabenen schon tot, als dass sich noch Angehörige fänden, um ihre Grabstellen für die Feiertage aufzuputzen. Immerhin wurde der Friedhof ja schon vor bald 150 Jahren aufgelassen …
Unlängst stach mir an einem der Gräber in St. Marx aber doch ein Baum ins Auge. Es war allerdings keine Blaufichte und keine Nordmanntanne, sondern ‚nur‘ eine Trauerweide. Ein Baum also, der wegen seiner hängenden Zweige traditionell als Symbol der Trauer gilt und dementsprechend oft auf Friedhöfen und Grabmälern zu finden ist. Etwas schematisch, aber doch klar erkennbar in Stein gemeißelt, prangt die Trauerweide, die ich meine, am Grabstein der ‚bürgl. Küchengärtnerstochter‘ Anna Krenn, die mit gerade einmal elf Jahren im November 1866 an Typhus starb.
Grabstein Anna Krenn, St. Marxer Friedhof, Wien (Okt. 2020)
Der Grabstein fiel mir bei meinem Besuch im Oktober auf, weil er gerade frisch restauriert war und sich daher deutlich von den altersgrauen Monumenten in seiner unmittelbaren Umgebung abhob. Es handelt sich um eine elegante, schlanke Stele mit leicht zugespitztem Abschluss. Über dem Sockel trägt sie zunächst das Relief eines mit Schleifen umwundenen Blumenkranzes, darüber die obligatorische Inschrifttafel, zuoberst schließlich die erwähnte Trauerweide.
Grabstein Anna Krenn, St. Marxer Friedhof, Wien (Okt. 2020)
Leider habe ich in meinem Fundus kein älteres Foto dieses Denkmals, um hier einen vorher/nachher-Vergleich präsentieren zu können. Wie der Grabstein vor der Restaurierung ausgesehen haben mag, kann man jedoch an anderer Stelle im Friedhof nachvollziehen.
Wie die meisten Denkmäler in St. Marx ist nämlich auch jenes für Anna Krenn kein Einzelstück, sondern das Produkt serieller Fertigung in einem der großen Steinmetzbetriebe, die damals mit teils über hundert Mitarbeitern den Bedarf an Grabdenkmälern in Wien und Umgebung deckten. Nach demselben Modell gearbeitete Monumente begegnen einem in St. Marx daher immer wieder …
Grabstein Anna Neubauer, St. Marxer Friedhof, Wien (Nov. 2020)
So etwa am Grab der 68-jährigen Fuhrmannswitwe Anna Neubauer, gestorben im März 1865 an einem Lungenödem. Hier ist sie wieder, die Trauerweide, doch diesmal an einem Stein, der noch grau, verwittert und moosbewachsen erst einer zukünftigen Restaurierung harrt.
Grabstein Anna Neubauer, St. Marxer Friedhof, Wien (Nov. 2020)
Vergleicht man die beiden Denkmäler, erkennt man freilich auch, dass serielle Produktion keineswegs völlige Uniformität bedeutete. Die Steine wurden immer noch von Hand bearbeitet, was durchaus Variationen im Detail zuließ. So ist der Neubauer-Grabstein in den Proportionen breiter und gedrungener als jener der Anna Krenn, der Sockel ist einmal mehr abgetreppt, und der reliefierte Kranz samt seiner Schleife ist ein klein wenig anders gestaltet. In der großen Form und in ihrem Aufbau sind beide Monumente aber doch so weit identisch, dass im Gesamteindruck die Übereinstimmungen dominieren.
Grabstein Anton Zeinlhofer, St. Marxer Friedhof, Wien (Nov. 2020)
Noch einen Schritt weiter in den Variationen geht das Grabdenkmal für Anton Zeinlhofer, Oberlehrer und Chorleiter in Erdberg, der im Juli 1866, im Alter von 63 Jahren, dem Zehrfieber erlag. Im Aufbau und in den Proportionen ist es weitgehend identisch mit dem Neubauer-Grab, nur der Kranz erscheint hier wiederum in einer anderen, dritten Variante. Gänzlich anders gestaltet ist indessen der obere Abschluss. Dieser bildet hier nämlich keine Spitze, sondern ist flach und eben – und fungiert als Podest für eine kniende Engelsfigur, die das Denkmal bekrönt!
Grabstein Anton Zeinlhofer, St. Marxer Friedhof, Wien (Nov. 2020)
Natürlich ist das kein Weihnachtsengel, und die Trauerweide darunter ist, wie schon gesagt, kein Weihnachtsbaum, aber das wäre auf einem Friedhof wohl auch zu viel verlangt, und man muss nehmen, was man eben kriegen kann … So verabschiede ich mich mit diesen Bildern in eine kleine Feiertagspause und wünsche allen Leser:innen, die Weihnachten feiern, auf diesem Wege ein frohes Fest!
Grabstein Anna Krenn, St. Marxer Friedhof, Wien (Dez. 2020)
Nach kurzer Unterbrechung hier nun der dritte und letzte Teil meiner kleinen Serie zu Werken von Bildhauerinnen der Zeit um 1900 am Wiener Zentralfriedhof. Im ersten Teil ging es um das Brahms-Grabmal von Ilse Conrat, im zweiten um das Grabmal Strauß von Teresa Feodorowna Ries. Der heutige Beitrag schließlich widmet sich dem Grabmal für Charles Wilda, das 1909 von Hella Unger (1875–1934) geschaffen wurde.
Wien, Zentralfriedhof, Grabmal Charles Wilda, 1909
Die Biographie der Bildhauerin Hella Unger ist noch wenig erforscht. Was ich im Folgenden präsentiere, sind daher nur vorläufige Ergebnisse, die ich vor allem anhand von zeitgenössischen Medienberichten zusammentragen konnte. Um ein wirklich vollständiges Bild zu gewinnen, wären auf jeden Fall noch weiterführende Archiv-Recherchen vonnöten.
Hella Unger wurde am 6. Jänner 1875 geboren, vermutlich in Wien, wo sie auch aufwuchs und zeit ihres Lebens wohnhaft blieb. Ihr Vater war der deutsche Kupferstecher und Radierer William Unger (1837–1932), der seit 1871 in Wien lebte und hier ab 1881 Professor an der Kunstgewerbeschule und ab 1895 an der Akademie der bildenden Künste war; ihre Mutter Therese war eine Tochter des Weimarer Hofkonditors August Ißleib.
Von 1899 bis 1901 lässt sich Hella Unger als Schülerin an der Wiener Vereins-Kunstschule für Frauen und Mädchen nachweisen. Diese Bildungseinrichtung war erst 1897 unter anderem von den Malerinnen Olga Prager, Rosa Mayreder und Tina Blau ins Leben gerufen worden, um Frauen eine künstlerische Ausbildung zu ermöglichen. Die Klasse für Bildhauerei leitete Richard Kauffungen, der somit Ungers erster Lehrer wurde. Schon im Jahr 1900 trat Unger mit einem ersten Werk an die Öffentlichkeit: Für das Grabmal des Kupferstechers Karl von Siegl am Hietzinger Friedhof schuf sie ein Porträtmedaillon des Verstorbenen in Bronze. Realistischerweise muss man wohl annehmen, dass sie diesen Auftrag nicht zuletzt den Beziehungen ihres Vaters verdankte, denn Siegl war einer von dessen Schülern gewesen. Gleichzeitig ist zu betonen, dass sich die junge Bildhauerin damals bereits einen gewissen Ruf als Künstlerin erworben hatte: In Rezensionen zu den Ausstellungen der Vereins-Kunstschule im Juni 1899 und im Mai 1900 wurde sie als die talentierteste der Schülerinnen hervorgehoben und als eine der wenigen namentlich genannt.
1903–1904 erscheint Hella Unger dann als Studentin an der Wiener Kunstgewerbeschule – der heutigen Universität für angewandte Kunst, – wo auch ihre zwei Jahre ältere Schwester Else studierte. Auf verschiedenen Kunstgewerbe-Ausstellungen präsentierte sie in dieser Zeit dekorative Glasarbeiten, etwa „ein paar grün überfangene, tief geschliffene Blumengläser“, von denen ein Kritiker fand, sie hätten „das Zeug dazu (…), populär zu werden“. Ihr Schwerpunkt blieb jedoch die Skulptur, die sie an der Kunstgewerbeschule bei Stefan Schwartz studierte. Schwartz war insbesondere als Medailleur bedeutend, und auch Unger konzentrierte sich in diesen Jahren auf die Arbeit an Medaillen und Plaketten, die zum Teil auf internationalen Ausstellungen gezeigt und mit Preisen bedacht wurden. Sie lieferte aber auch Entwürfe für eine Trophäe der Herkomer-Konkurrenz (1906) und für ein Wiener Reiseandenken (1907).
1907 zeigte Unger auf der Frühjahrs-Ausstellung im Wiener Künstlerhaus dann erstmals monumentalere Bildhauerarbeiten. Vor allem ihre Porträtbüste des Archäologen Otto Benndorf erregte allgemeine Aufmerksamkeit. Die lebensgroße Halbfigur sei „kühn gemacht“ und „mit männlicher Energie durchgeführt“, lobten die Kritiker. Daneben war Unger auf der Ausstellung noch mit einer Kinderbüste vertreten und mit der Skulptur Rast, einer ebenfalls lebensgroßen Aktfigur, die einen sitzenden Sklaven darstellte. Auch Letztere fand die Zustimmung der Kritik; mit Blick auf den ersten Teil dieser Serie ist besonders das Urteil der Tageszeitung Die Zeit von Interesse: „Diese sitzende und sinnende Gestalt erinnert an manche ähnliche, die wir in diesem Saal von der Feodorowna Riesz (sic) gesehen haben. Aber Hella Unger ist von Mätzchen und von koketter Pose frei, ist ehrlicher, wenn auch technisch noch nicht so gewitzt wie die Riesz.“
Wien, Zentralfriedhof, Grabmal Charles Wilda, 1909
Zwei Jahre später, 1909, schuf Unger mit dem Grabmal für Charles Wilda ein ähnlich monumentales, ähnlich aufsehenerregendes Werk. Danach führte sie, wie es scheint, keine Arbeiten größeren Formats mehr aus, wohl auch, weil es aufgrund der mit dem Ersten Weltkrieg einsetzenden Verschlechterung der Wirtschaftslage weniger große Aufträge für Bildhauer:innen gab. Der Schwerpunkt von Ungers künstlerischer Tätigkeit blieb damit im Bereich der Kleinplastik. Sie fertigte vor allem Porträtbüsten, -medaillons und -plaketten und war insbesondere auf Kinderporträts spezialisiert. Als eine ihrer wenigen Arbeiten für den (halb-)öffentlichen Raum ist ihre zweite, kleinere Porträtbüste von Otto Benndorf hervorzuheben, die sie 1929 für die Gelehrtenreihe im Arkadenhof der Universität Wien schuf.
Neben ihrer eigentlichen bildhauerischen Arbeit war Unger auch als Lehrerin tätig – unter anderen war die Bildhauerin Hanna Blaschczik ihre Schülerin – und engagierte sich für Frauenrechte. So war sie 1910 wie Ilse Conrat ein Gründungsmitglied der Vereinigung bildender Künstlerinnen Österreichs (VBKÖ). 1913 gehörte sie dem Künstlerinnenkomitee für die große Frauenstimmrechts-Konferenz, die im Juni des Jahres in Wien stattfand, an.
Hella Unger starb am 5. August 1934 in Wien, wo sie im Friedhof Ober-St.-Veit ihre letzte Ruhestätte fand.
Wien, Zentralfriedhof, Grabmal Charles Wilda, 1909
Das Grabdenkmal für Charles Wilda nimmt in Ungers Œuvre eine herausragende Stellung ein. Es ist nicht nur eine ihrer größten Arbeiten, sondern auch eine der wenigen, die für eine permanente Aufstellung an einem öffentlichen Ort geschaffen wurden. Der 1907 verstorbene Wilda war ein zu Lebzeiten populärer, heute aber weitgehend vergessener Maler. Vor allem für seine romantisierenden Genrebilder aus Ägypten bekannt, zählte er zu den Hauptvertretern des Orientalismus in der österreichischen Kunst um 1900. Auf diesen Aspekt seines Werks nimmt auch die Ikonographie des Grabmals Bezug: „Das Denkmal (…) stellt einen Grufteingang dar, aus dem eben ein Fellachenknabe tritt, der sich im Schmerz an die Pfeiler der Gruft klammert, eine gute Charakterisierung des Meisters der Farben und begabten Schilderer (sic) des Orients“, schrieb etwa die Österreichische Illustrierte Zeitung anlässlich der feierlichen Enthüllung des Monuments Ende Oktober 1909, wenige Tage vor Allerheiligen. Eine andere zeitgenössische Beschreibung spricht von einem „Grufteingang (…), an dem ein junger Araber trauernd lehnt.“
Wien, Zentralfriedhof, Grabmal Charles Wilda, 1909
Heute wird die bronzene Jünglingsfigur meist anders gedeutet: nicht als schmerzvoller Trauernder, sondern als Auferstehender, der aus der Gruft tritt und sich, wie im Aufwachen, dehnt und streckt. In seinem Standardwerk zur Wiener Grabskulptur des Historismus bezeichnet der Kunsthistoriker Werner Kitlitschka Ungers Bronzeskulptur als „eine der künstlerisch überzeugendsten Darstellungen der Auferstehung überhaupt.“
Mit diesem prägnanten Zitat bin ich nun am Ende des heutigen Beitrags, aber auch der Serie angelangt. Es ist jedoch nur ein vorläufiges Ende. Denn am Wiener Zentralfriedhof gibt es ja noch Werke von anderen Bildhauerinnen, und auch Ilse Conrat, Teresa Feodorowna Ries und Hella Unger haben hier und auf anderen Friedhöfen noch weitere Grabmäler geschaffen. Über kurz oder lang werde ich sicher das eine oder andere davon hier im Blog vorstellen. Fortsetzung folgt also …
P. S.: Da heute der letzte Tag der Blogparade ist, teile ich den Beitrag schon einmal in noch nicht ganz fertigem Zustand – es fehlen noch die Fußnoten mit den Quellenbelegen. Ich werde sie in den nächsten Tagen nachtragen.
Ich unterbreche nur ungern die begonnene Serie zu den Bildhauerinnen am Wiener Zentralfriedhof, aber man soll die Feste bekanntlich feiern, wie sie fallen, und letzte Nacht gab es zum ersten Mal diesen Winter Schneefall in Wien. Ich konnte daher nicht widerstehen, gleich nach dem Frühstück einen Hüpfer auf den St. Marxer Friedhof zu machen, und will die fotografische Ausbeute davon hier teilen, so lange sie noch frisch ist …
Der Weg zum Friedhof ist heute Vormittag kein sonderlich schöner, denn auf den Straßen und Gehsteigen haben Autos und Fußgänger, Streu- und Räumdienste den nächtlichen Schnee schon zu nassgrauem Matsch verwandelt. Im Friedhof selbst aber liegt er noch so dick und weiß wie auf einer kitschigen Weihnachtspostkarte.
Auf den Hauptwegen des Friedhofs sieht man schon einzelne Fußspuren von frühen Spaziergänger:innen, aber zwischen den Gräberreihen ist die Schneedecke noch so unberührt, dass man sich fast scheut, sie zu betreten.
Dichter:innen mit einem Hang zu Romantik und Metaphorik verwendeten früher gern das Bild des Leichentuchs, wenn sie von schneebedeckten Friedhöfen schrieben. Der Biedermeier-Schriftsteller Karl Johann Braun von Braunthal etwa dichtete in seinen Winterliedern von 1836:
Das Bahrtuch liegt gebreitet Wohl über Stadt und Land, Den Kirchhof Erd’ umfriedet Die weiße Himmelswand.
Denksteine, klein’ und große, Seh’n aus dem Schnee hervor, Die schönsten – für Paläste Hält sie der Mensch, der Tor!
Das sind, zugegeben, nicht unbedingt die besten Verse, die je geschrieben wurden, und ich teile sie hier eigentlich auch nur darum, weil Braun von Braunthal selbst in St. Marx begraben liegt. Zu den Denksteinen, die ich auf dem heutigen Spaziergang aus dem Schnee hervorragen sehe, zählt auch der seine.
Der Schnee, sagt man, dämpft alle Geräusche, aber so ganz stimmt das leider nicht: Tatsächlich schluckt er vor allem die hohen Frequenzen, und so ist das tiefe, einförmige Brummen der Autos von der nahen Südosttangente heute im Friedhof fast dominanter als sonst. Nur hie und da übertönen die obligatorischen Krähen mit einem lauten, plötzlichen Krächzen den Lärm des Verkehrs. In den Bäumen und Sträuchern an der Friedhofsmauer hingegen zwitschern die Meisen und flitzen, halb hüpfend, halb fliegend, zwischen den Zweigen umher.
Schon auf dem Weg zum Ausgang, höre ich, dass sich in dem Baum direkt über mir etwas bewegt. Wie ich hinaufschaue, sehe ich zwei Buntspechte, die dicht übereinander hinter einem Ast hervorlugen. Die roten Stellen in ihrem Gefieder ein Echo der Berberitzen, deren kleine Fruchttrauben immer noch über die Grabsteine hängen.
Kurz bin ich versucht, noch ein letztes Mal die Kamera zu zücken, um die beiden Vögel damit einzufangen, aber wahrscheinlich, denke ich, fliegen sie dann just den Moment auf und davon, wenn ich auf den Auslöser drücke … Ich beschließe also, es bleiben zu lassen, und gehe.
Vergangene Woche habe ich hier eine kleine Serie zu Werken von Bildhauerinnen der Zeit um 1900 am Wiener Zentralfriedhof begonnen. Im ersten Teil ging es um das Brahms-Grabmal, das 1902–1903 von Ilse Conrat geschaffen wurde. Mehr oder weniger gleichzeitig entstand das ‚Grabmal Strauß‘ von Teresa Feodorowna Ries (1866–1956), das im Zentrum des heutigen Beitrags steht.
Wien, Zentralfriedhof, Grabmal Strauß, 1903
Teresa Feodorowna Ries wurde 1866 in Budapest geboren, übersiedelte aber bald mit ihrer Familie nach Moskau. Einem wohlhabenden jüdischen Elternhaus entstammend, erfüllte sie zunächst die Erwartungen, die man an ein ‚Mädchen aus gutem Haus‘ stellte und ging früh eine Ehe ein. Diese zerbrach jedoch nach kurzer Zeit, Ries kehrte zu ihren Eltern zurück und begann an der Moskauer Kunsthochschule Malerei zu studieren. Nun erfüllte sie keine Erwartungen mehr. Im Gegenteil, sie flog sogar von der Kunsthochschule, weil sie es gewagt hatte, einem der Herren Professoren öffentlich Widerworte zu geben. In der Folge bildete sie sich autodidaktisch weiter, nun allerdings nicht mehr als Malerin, sondern als Bildhauerin.
1895 ging Ries nach Wien, um hier ihre künstlerische Ausbildung fortzusetzen. An der Akademie der bildenden Künste wurde sie jedoch nicht zum Studium zugelassen, da diese (bis 1920/21) nur Männer aufnahm. In ihrer 1928 erschienenen Autobiographie Die Sprache des Steines erinnerte Ries sich an diese Erfahrung: „Mein Gott, Schüler sein dürfen, Jünger irgendeines großen Meisters, von dem man lernen konnte! Arbeit schaffen dürfen! Und ich sollte davon ausgeschlossen sein, weil ich eine Frau war?!“1 Am Ende fand sie aber doch einen Lehrer: Edmund Hellmer, der wohl bedeutendste Wiener Bildhauer jener Zeit und Professor der Skulpturklasse an der Akademie, war von einer Probearbeit der angehenden Künstlerin so beeindruckt, dass er sich bereiterklärte, ihr Privatunterricht zu erteilen.2
Ries wurde bald zu einer wichtigen Mitarbeiterin in Hellmers Atelier, erzielte jedoch ebenso bald mit eigenen Werken erste Erfolge. 1896 zeigte sie auf der Frühjahrsausstellung im Wiener Künstlerhaus die Skulptur Hexe bei der Toilette für die Walpurgisnacht. Das Werk sorgte allgemein für Furore, ja geradezu für einen Skandal. Dass es sich um eine weibliche Aktfigur mit erotischer Strahlkraft handelte, ging ja noch an, aber dass diese bei einer so banalen Tätigkeit wie dem Schneiden der Zehennägel dargestellt wurde, war manchen dann doch zu, sagen wir, unkonventionell. Und dass diese Skulptur dann noch von einer Frau geschaffen worden war, setzte dem Ganzen die Krone auf! Ries selbst erhielt für das Werk nun zwar keine Krone, aber immerhin eine Goldmedaille und wurde quasi über Nacht berühmt.
Es würde zu weit führen, an dieser Stelle Ries’ ganzes Schaffen detailliert nachzuzeichnen. Gesagt sei daher nur: Die Hexe blieb nicht ihr einziger großer Erfolg, und Ries blieb bis weit in die Zwischenkriegszeit hinein eine der führenden Bildhauer:innen von Wien. Erst der Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland im März 1938 setzte Ries’ Karriere ein erzwungenes Ende. Ihr Atelier im Palais Liechtenstein wurde arisiert, viele ihrer Werke wurden als ‚entartet‘ zerstört. Bis 1942 blieb die Künstlerin dennoch in Wien, dann erst floh sie in die Schweiz, nach Lugano, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1956 lebte.
Wien, Zentralfriedhof, Grabmal Strauß, 1903
Zu Ries’ größten Erfolgen zählt auch das Grabmal Strauß am Zentralfriedhof. Vor der Aufstellung an seinem Bestimmungsort wurde das monumentale Bildwerk 1903 in der Frühjahrsausstellung der Wiener Secession gezeigt, wo es große Aufmerksamkeit erregte. Im Katalog der Ausstellung erscheint es unter dem Titel Die Seele kehrt zu Gott zurück. Grabdenkmal für einen Jüngling.3 Über die Identität des Verstorbenen finden sich in der Literatur keine Angaben, die über den Nachnamen hinausgehen, und auch am Grab selbst gibt es keine entsprechenden Hinweise (mehr).
Bemerkenswert für eine Grabskulptur ist, dass sie ganz ohne architektonisches Beiwerk wie Rahmung oder Sockel auskommt. Ries gestaltete eine freistehende, überlebensgroße Figurengruppe, der man noch deutlich den Steinblock ansieht, aus dem sie herausgearbeitet wurde. Die hochaufragende Gestalt Gottes umfängt die aufstrebende Seele in einem schützenden Mantel, der allerdings nicht im Detail ausgeführt, sondern nur angedeutet ist. Die Oberflächen sind großteils rau belassen. Nur die als nackte Jünglingsgestalt wiedergegebene Seele ist ein wenig glatter und feiner ausgearbeitet. Ihr zurückgelehnter Kopf wird von der wuchtigen Hand Gottes gestützt und geborgen.
Wien, Zentralfriedhof, Grabmal Strauß, 1903
Wie schon die zeitgenössischen Kritiker einhellig bemerkten, steht das Grabmal Strauß deutlich unter dem Einfluss Auguste Rodins.4 Ries selbst wies eine solche Abhängigkeit freilich stets von sich. Auf den Einfluss Rodins, aber auch den ihres Lehrers Hellmers angesprochen, betonte sie 1906 im Gespräch mit dem Neuen Wiener Journal: „Ich habe nichts gelernt, ich wüßte nichts, was auf mich von Einfluß gewesen wäre. Was da kam, das kam von selbst, es lag in mir, in meinem Naturell, in meinem Bestreben, abzugehen von der Schablone.“ Der Artikel, dem das Zitat entstammt, kommt in der Folge auch auf das Grabmal Strauß und dessen Entstehungsgeschichte zu sprechen: „Ganz unbewußt kam Fräulein Ries zu dieser seltsamen Schöpfung, die mir schon auf dem Zentralfriedhof als ganz der italienischen Schule entwachsenes Campo santo-Ornament auffiel. Sie sah einen jungen Menschen im Ballsaal, hörte dann von seinem Tode und entschloß sich auf Bitten der Eltern, ihm ein Grabmal zu komponieren. Da sie gerade einmal daran dachte, wie schön es für einen Künstler sei, derlei Aufgaben zu vollenden, zog sie den Modellierton empor und sah die Umrisse des Denkmals vor sich, die aufwärts schwebende Seele und Gott Vater, der sie liebevoll zu sich nimmt.“ Doch auch über den hier ausgesprochenen Vergleich mit der ‚italienischen Schule‘ zeigte Ries sich nicht sonderlich angetan: „Man sagt, daß ich den Künstlern der italienischen Friedhöfe nahe stehe, aber ich kenne die heiligen Stätten nicht, ich war nie in Mailand und nie in Genua, es muß also nur so unbewußt sein …“, hielt sie im selben Gespräch fest.5
Aussagen wie diese sind freilich stets mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Unter den Künstler:innen der Moderne zählt(e) es zu den Standardpraktiken der Selbstmythisierung, äußere Einflüsse kategorisch abzustreiten und das eigene Schaffen ganz aus dem individuellen inneren Antrieb zu erklären. Ein prominentes Beispiel ist etwa Oskar Kokoschka, der 1913 ausrichten ließ, er habe „niemandem nie nichts nachgemacht“, und der bald darauf begann, sein Frühwerk nachträglich um zwei bis drei Jahre vorzudatieren, um augenscheinliche Abhängigkeiten von Künstlern wie Max Oppenheimer oder Picasso leugnen zu können.6 Man wird also gut daran tun, auch den Äußerungen von Ries in dieser Hinsicht mit ähnlicher Skepsis zu begegnen wie vergleichbaren Statements ihrer männlichen Kollegen. Bemerkenswert ist dabei jedoch, dass der Mythos vom autark und unbewusst schaffenden Künstler historisch betrachtet eng an eine spezifisch männliche Vorstellung von ‚Genie‘ gebunden war, dass Ries also auch hier, in ihrem Selbstverständnis als Künstlerin sich eine Rolle ‚anmaßte‘, die ihr als Frau keineswegs selbstverständlich zugestanden wurde.
Wien, Zentralfriedhof, Grabmal Strauß, 1903
Um abschließend noch einmal auf das Grabdenkmal für einen Jüngling zurückzukommen, will ich diesen Beitrag mit einem längeren Zitat des Schriftstellers und Kunstkritikers Franz Servaes beenden. Im März 1903 verfasste Servaes für die Neue Freie Presse eine Besprechung der erwähnten Secessions-Ausstellung und widmete darin der Ries’schen Grabskulptur breiten Raum. Seine begeisterten Worte zeugen auf beredte Weise vom hohen Stellenwert der Bildhauerin in der Wiener Kunstszene ihrer Zeit:
„In Stein steht bereits das große Werk, mit dem Theresa Feodorowna Ries ihren Künstlerruf noch dauerhafter als bisher fundamentiert hat, ein Grabdenkmal für einen Jüngling. Der Gedanke, der diesem Grabmal zu Grunde liegt, ist von verblüffender Großartigkeit, die Ausführung, wenn auch von Einwirkungen Rodin’s nicht frei, ebenso kühn als zwingend. Mit allen Conventionen hat die Künstlerin in genialer Weise gebrochen, alle Grabengel und Urnenträger hat sie beiseite gelassen – aber sie hat nicht blos etwas Altes verlassen, sie hat auch etwas Neues, Gewaltigeres dafür gefunden. Nicht den Abschied von der Erde, nicht das trauervolle Ende schildert sie, sondern einen strahlenden Neubeginn, die Vereinigung der Seele mit Gott. Und für diesen mystisch-religiösen Gedanken fand sie eine einfach-klare und packende Form. Ein nackter Jüngling schwebt sehnend empor – in der Haltung der Beine, der gekrümmten Arme und des zurückgebeugten Hauptes ist das Emporschweben illusionskräftig ausgedrückt – und oben empfängt ihn eine wolkige Hand, die sich auf seinen Nacken legt, und ein wolkiges Haupt beugt sich liebreich zu ihm nieder, als wollte es ihm den Kuss der Verklärung auf die Stirn drücken. Wie das im Stein da vor uns steht, wirkt es schier wie ein Wunder. Der Stein selber wandelt sich langsam in ein wolkiges Gebilde, und das wolkige Gebilde in eine menschliche Gestalt von riesenhafter Erscheinung, doch von unendlicher Güte. Es ist als ob das Chaos Form annehme und, von Liebe durchdrungen, sich als Gottheit offenbare. (…) Und wie wunderbar ist die innige Verbindung beider Gestalten, des Menschen und des Gottes! Wie fühlt man, dass der Mensch, in die Arme Gottes gleitend, gleichsam in seine ewige Heimat zurückkehrt – von Trost, von Beruhigung, von seliger Verklärung durchdrungen und erfüllt! Darum ist auch der religiöse Gehalt dieses Kunstwerkes so mächtig – wahrhaft religiös – gerade weil er über allen geschriebenen Religionssatzungen steht und einfach aus dem tiefsten Grunde des Menschlichen, aus dem Urboden der Gefühls- und Sehnsuchtsmächte emporsteigt. Mit diesem Werke hat die Künstlerin Ries Alles übertroffen, was sie bisher geleistet hat, und sich beherzt in die Reihe der großen Bildhauer unserer Zeit gestellt.“7
1. Teresa Feodorowna Ries, Die Sprache des Steines, Wien 1928, S. 13. ↩
2. Zum Verhältnis von Ries zu ihrem Lehrer Hellmer vgl. Marlies Mörth, Edmund Hellmer und die Bildhauerschule an der Akademie der bildenden Künste in Wien, Masterarbeit Universität Wien 2012, S. 60–65 [Digitalisat]. ↩
3. Katalog der XVII. Ausstellung der Vereinigung Bildender Künstler Österreichs Secession Wien, März–Mai 1903, Wien 1903, S. 36 [Digitalisat]. ↩
4. Vgl. exemplarisch das Urteil X. von Gayrspergs im Neuigkeits-Welt-Blatt: „Ein mächtiger Steinblock zeigt, daß Rodin Schule macht. Theresia [sic] Ries hat die Kühnheit gehabt, ihm nachzuempfinden. Ihr großes Talent durfte es wagen und man wird nicht ohne Interesse das Grabdenkmal für einen Jüngling betrachten.“ (Neuigkeits-Welt-Blatt, 29. März 1903, o. S. [digital auf ANNO]). ↩
5. Die wörtlichen Zitate in diesem Absatz stammen aus: Teresa Feodorowna Ries (Wiener Porträts CLXXXVIII), in: Neues Wiener Journal, 4. März 1906, S. 2–3, hier S. 3 [digital auf ANNO]. ↩
6. Vgl. Régine Bonnefoit, Kunsthistoriker vom Künstler zensiert – am Beispiel der Kokoschka-Monographie von Edith Hoffmann (1947), in: Beate Böckem, Olaf Peters u. Barbara Schellewald (Hg.), Die Biographie – Mode oder Universalie?, Berlin u. Boston 2016, S. 169–182, bes. S. 176–182. ↩
7. Franz Servaes, Secession, in: Neue Freie Presse, 31 März 1903, S. 1–3, hier S. 2 [digital auf ANNO]. ↩
Wien, Zentralfriedhof, Partie aus dem ‚Musikerboskett‘ mit den Grabmälern der Komponisten Adolf Müller, Franz Schubert und Johannes Brahms
Mehr noch als die Malerei war das Feld der Skulptur lange Zeit eine fast reine Männerdomäne. Zwar gab es spätestens seit der Renaissance immer wieder auch Frauen, die sich erfolgreich als Bildhauerinnen betätigten – eine Properzia de’ Rossi ließe sich hier ebenso anführen wie etwa Luisa Roldán oder Marie-Anne Collot – doch blieben diese in ihrer jeweiligen Zeit und Umgebung meist isolierte Ausnahmeerscheinungen. Erst in den Jahren um 1900 konnten Frauen sich in größerer Zahl als Bildhauerinnen etablieren und ihre Werke regelmäßig in prominenten Kunstausstellungen, aber auch im öffentlichen Raum platzieren. Ein wichtiges Betätigungsfeld bildete dabei, genau wie für ihre männlichen Kollegen, die Grabskulptur.
Auch unter den Grabdenkmälern am Wiener Zentralfriedhof findet man daher gar nicht so wenige Werke von Bildhauerinnen aus dem beginnenden 20. Jahrhundert. Das obige Foto etwa zeigt eine Partie aus dem ‚Musikerboskett‘ (Gruppe 32A) der dortigen Ehrengräberabteilung: Gleich zwei der drei darauf zu sehenden Denkmäler wurden von Frauen geschaffen.
Wien, Zentralfriedhof, Grabdenkmal für Adolf Müller, 1904
Da ist zunächst links im Vordergrund das vergleichsweise schlichte Monument für den Theaterkomponisten Adolf Müller, eine steinerne Stele mit einem Bronzemedaillon, das ein Porträt des Verstorbenen zeigt. Zeitungsberichte über die Enthüllung des Monuments im November 1904 bezeichnen es als „ein Werk der Bildhauerin Fräulein Brosch“.1 Leider ist es mir nicht gelungen, weitere Informationen über diese Künstlerin aufzuspüren. Nicht einmal ihren Vornamen konnte ich bislang herausfinden. Zwar ist das Relief signiert, doch gerade der Vorname besteht aus nicht viel mehr als einigen groben Kerben im Metall, die sich nicht schlüssig entziffern lassen …
Es gibt am Wiener Zentralfriedhof aber auch Denkmäler von Bildhauerinnen, bei denen wir wesentlich mehr über die Urheberinnen wissen – und die auch künstlerisch spannender sind als der doch eher biedere Gedenkstein für Adolf Müller. Drei davon will ich heute und in den kommenden Wochen als eine kleine Serie vorstellen.
Wien, Zentralfriedhof, Grabdenkmal für Johannes Brahms, 1902–1903
Nur wenige Schritte vom Müller’schen Denkmal entfernt steht jenes für den ungleich berühmteren Johannes Brahms, das in den Jahren 1902–1903 von Ilse Conrat (1880–1942) geschaffen wurde.
Conrat war gebürtige Wienerin und wuchs in ihrer Heimatstadt in einem großbürgerlichen, musik- und kunstaffinen Elternhaus auf. (Ihre jüngere Schwester war die bekannte Kunsthistorikerin Erica Tietze-Conrat.) In Wien erhielt sie durch Josef Breitner auch ihren ersten Unterricht in der Bildhauerei, ehe sie 1898 nach Brüssel ging, um ihre Ausbildung bei Charles van der Stappen fortzusetzen.
Ilse Conrat [aus: Anton Hirsch, Die bildenen Künstlerinnen der Neuzeit, Stuttgart 1905 (Quelle: Wikimedia Commons/gemeinfrei)]
1901 nach Wien zurückgekehrt, konnte Ilse Conrat sich rasch als Künstlerin etablieren und erhielt zahlreiche Aufträge, vor allem für Grabmäler und Porträtbüsten. In den folgenden Jahren stellte sie regelmäßig in der Wiener Secession, aber auch in München, Breslau, Rom und Venedig aus. 1910 wurde sie Vizepräsidentin der neugegründeten Vereinigung bildender Künstlerinnen Österreichs (VBKÖ) und beteiligte sich in dieser Funktion an der Organisation der wegweisenden Ausstellung Die Kunst der Frau in der Secession. Im selben Jahr heiratete sie den preußischen Generalmajor Ernst August Dobrogast von Twardowski und begab sich mit ihm für mehrere Jahre auf Reisen. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, ließ sich das Paar schließlich in München nieder.
Die wirtschaftlich schwierige Lage während und nach dem Krieg führte zu einem drastischen Rückgang der Aufträge für die Bildhauerin. Conrat musste sich zunehmend auf das Gestalten kleinerer Objekte für die Porzellanmanufaktur Allach verlegen. Dank der Förderung durch Ilse Leembruggen konnte sie aber auch in der Zwischenkriegszeit noch einige größere Arbeiten ausführen.
Obwohl Conrat jüdischer Abstammung war, konnte sie sich anfänglich für die Ideologie des Nationalsozialismus erwärmen. Erst als ihr 1935 die Mitgliedschaft in der Reichskammer der bildenden Künste verwehrt wurde, was de facto einem Berufsverbot gleichkam, begann ihre Begeisterung für die neuen Machthaber zu schwinden. Die Künstlerin zog sich in der Folge in die ‚innere Emigration‘ zurück. Als sie im Sommer 1942 deportiert werden sollte, nahm sich Ilse Conrat das Leben.
Wien, Zentralfriedhof, Grabdenkmal für Johannes Brahms, 1902–1903
Das Grabmal für Johannes Brahms war Conrats erste größere öffentliche Arbeit. Was sie für diesen Auftrag ‚qualifizierte‘, war neben ihrem Talent auch der Umstand, dass Brahms zu Lebzeiten in engem Kontakt zu ihrer Familie gestanden war und sie schon unmittelbar nach seinem Tod 1897 eine vielbeachtete Porträtbüste des Komponisten geschaffen hatte. Obwohl Brahms in einem von der Stadt Wien gewidmeten Ehrengrab bestattet wurde, dauerte es nach seinem Tod noch einige Jahre, bis aus Spenden und dem Erlös von Benefizkonzerten genug Geld beisammen war, um ihm ein prachtvolles Grabdenkmal zu errichten. Im Oktober 1902 war es schließlich so weit, und Conrats Entwurf wurde vom Wiener Stadtrat bewilligt.2 Etwas mehr als ein halbes Jahr später, am 7. Mai 1903 – Brahms 70. Geburtstag – wurde das fertige Monument feierlich enthüllt.3 Die Wiener Tageszeitung Die Zeit brachte anlässlich dieser Feier eine ausführliche Würdigung des Werks:
„Das von Ilse Conrat ausgeführte Marmordenkmal besteht aus einer außerordentlich lebenstreuen, ungemein fein durchgebildeten Büste des Meisters in jener Stellung, in der ihn das Wiener Concertpublicum bei den Musikaufführungen in der Directionsloge des großen Musikvereinssaales sehen konnte: den schönen, von langem Haar und Bart umrahmten Kopf nachdenklich in die rechte Hand gestützt, während die Linke die auf der Brüstung aufliegende Partitur hält. Die Büste steht auf einem in vornehmen, einfach-ernsten Linien gehaltenen Postament, das architektonisch mit einer gleichsam wie ein Gobelinvorhang wirkenden Reliefwand verbunden ist, von der sich die freistehende Büste scharf abhebt. Das Relief stellt einen sonnigen Hügel dar, zu dessen Höhe ein schlankes nacktes Weib mit hochgehaltener Leier hinanschreitet; von der Leier weht ein flimmernder Schleier herab, dessen einen Zipfel ein trauernder Jüngling inbrünstig an die Lippen führt (…).“4
Wien, Zentralfriedhof, Grabdenkmal für Johannes Brahms, 1902–1903
Die inhaltliche Bedeutung der beiden Relieffiguren im Hintergrund umriss die Künstlerin selbst mit den folgenden Worten: „Die Muse trägt die ausgeklungene Leier wie ein Heiligtum gegen den Himmel, gleichsam, als wollte sie das köstliche Kleinod der Gottheit zurückstellen. Ein Schleier weht von der Leier herab; es ist die unsterbliche Musik des Meisters, die unter uns fortlebt! Der Jüngling drückt den Schleier an seine Lippen und bringt das tönende Vermächtnis der Menschheit hinunter zum Trost!“5
Die Auf- und Abwärtsbewegung der beiden Figuren findet ihr Echo im architektonischen Rahmen des Grabmals: Ein flacher Bogen mit jugendstil-mäßigem Schwung bildet dessen oberen Abschluss. Wie man heute weiß, war an der Konzeption des Monuments tatsächlich auch ein Experte aus dem Baufach beteiligt: der belgische ‚Stararchitekt‘ Victor Horta, den Conrat aus ihrer Brüsseler Zeit kannte.6
Wien, Zentralfriedhof, Grabdenkmal für Johannes Brahms, 1902–1903
Trotz der Beteiligung Hortas kann jedoch kein Zweifel bestehen, dass Qualität und Bedeutung des Brahms-Denkmals am Zentralfriedhof primär im Bereich des Skulpturalen liegen. Vor allem das subtile Relief der Hintergrundwand zählt mit zum Besten, was die Wiener Grabskulptur um 1900 zu bieten hat: Die den Betrachter:innen zugewandte Seite der Figuren ist plastisch und voluminös herausgearbeitet; die abgewandte Seite hingegen – nicht zuletzt der Kopf der Frau–, aber auch Lyra und Schleier sind so flach und so fein gearbeitet, dass sie sich fast malerisch in der Hintergrundfläche aufzulösen scheinen. Mehr noch als in der Porträtbüste des Verstorbenen zeigt sich hier die technische Meisterschaft der Bildhauerin Ilse Conrat.
Wien, Zentralfriedhof, Grabdenkmal für Johannes Brahms, 1902–1903 (Detail: Signatur Ilse Conrats)
Quellen / Lektüreempfehlungen
Ausführlichere, teils illustrierte Beschreibungen von Ilse Conrats Leben bieten:
1. Neues Wiener Tagblatt, 10. Nov. 1904, S. 9 [digital auf ANNO]. Mehr oder weniger wortgleiche Formulierungen erschienen auch in anderen Wiener Blättern, z. B. in: Wiener Bilder, 16. Nov. 1904, S. 7 [digital auf ANNO]. ↩
6. Vgl. Sabine Plakolm-Forsthuber, Stein der Sehnsucht, Stein des Anstoßes: drei Bildhauerinnen der Jahrhundertwende, in: Die Frauen der Wiener Moderne, hrsg. von Lisa Fischer u. Emil Brix, Wien 1997, S. 179-193, hier S. 187. ↩