Ende des vergangenen Jahres schrieb ich hier eine kleine Serie über Werke von Bildhauerinnen am Wiener Zentralfriedhof. Ich schloss mit der Ankündigung, die Serie in unregelmäßigen Abständen fortzusetzen, und heute ist es nun so weit: Es geht weiter mit dem Grabmal für Ignaz Jakob Heger, für das Irma Stuart Willfort (1882–1969) ein Porträtmedaillon des Verstorbenen schuf.

Der 1808 in Böhmen geborene Heger kam 1833 nach Wien, wo er sein in Olmütz begonnenes Studium der Rechte abschloss und in der Folge als Justiz- und Verwaltungsbeamter tätig war. Daneben erlernte er im Selbststudium die Stenographie und begann bald, die von Franz Xaver Gabelsberger entwickelte Kurzschrift als Privatlehrer zu unterrichten. 1842 gründete er schließlich die erste Schule für Stenographie in Wien und trug damit wesentlich zu deren Verbreitung in der Habsburgermonarchie bei – und zwar über den deutschen Sprachraum hinaus, denn zu Hegers Verdiensten zählte nicht zuletzt die Entwicklung einer Kurzschrift nach Gabelsbergers System für die tschechische Sprache.
Nach seinem Tod im Mai 1854 wurde Heger im Matzleinsdorfer Friedhof bestattet. Auf Betreiben des Gabelsberger-Stenographenzentralvereins in Wien wurde ihm 1907 jedoch vom Stadtrat ein Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof zugesprochen. Die Umbettung seiner sterblichen Überreste erfolgte schließlich im November 1909, und am 27. des Monats wurde in einem großen Festakt das für die neue Begräbnisstätte geschaffene Grabmal feierlich enthüllt.
Das von der Steinmetzfirma Wilhelm Lovrek geschaffene Monument besteht aus schwarzem schwedischen Granit. Einen großen Teil des Denkmals nimmt eine ausführliche Inschrift ein, die in goldenen Lettern sämtliche Verdienste des Verstorbenen auflistet.

Über der Inschrift prangt ein Porträtmedaillon aus weißem Carrara-Marmor. Es stammt – wie schon eingangs gesagt – von der Bildhauerin Irma Stuart Willfort. Das Bildnis wirkt ausgesprochen lebensecht und naturalistisch, auch wenn die weiche Modellierung die Prägung durch den impressionistischen Skulpturenstil jener Zeit verrät.

Das Porträtmedaillon entstand freilich mehr als ein halbes Jahrhundert nach Hegers Tod und wurde daher natürlich nicht nach dem lebenden Modell, sondern nach einer älteren Vorlage gestaltet; vielleicht nach dem (ebenfalls posthumen) Bildnis, das Jan Vilímek 1884 für die Literaturzeitschrift Zlatá Praha schuf. Im Vergleich fällt auf, dass Stuart Willfort das Gesicht etwas breiter wiedergab als die (mögliche) Vorlage, vielleicht einfach, damit es sich harmonischer in die runde Rahmenform einfügt.

Bildquelle: Wikimedia Commons
Als das Grabmal für Heger entstand, war Irma Stuart Willfort gerade dabei, sich als Porträtmedailleurin einen Namen zu machen. – Die 1882 geborene Künstlerin war die Tochter des Schriftstellers und Journalisten Ferdinand Willfort, der lange Zeit Redakteur der Wiener Tageszeitung Das Vaterland war. (Über ihre Mutter konnte ich leider keine Informationen finden, außer dass ihr Vorname Emma war.) Die Familie lebte offenbar in gehobenen Verhältnissen, denn sie besaß eine Villa am Wiener Stadtrand, in Gersthof, die die Bildhauerin auch nach dem Tod des Vaters weiter bewohnte.
1909 trat Irma Stuart Willfort erstmals mit einer Reihe kleiner Porträtmedaillons an die Öffentlichkeit, denen die Internationale Sammlerzeitung im Aprilheft einen knappen, aber äußerst wohlwollenden Artikel widmete. Dem nur mit »―r.« gezeichneten Beitrag lässt sich entnehmen, dass Stuart Willfort ihre künstlerische Ausbildung bei Arthur Strasser erhalten hatte. Das legt nahe, dass sie an der Wiener Kunstgewerbeschule (der heutigen Angewandten) studierte, wo Strasser die Bildhauerei-Klasse unterrichtete.
Einen alten kunsthistorischen Topos aufgreifend, fährt der Artikel dann fort: »Ihre zweite große Lehrmeisterin war die Natur, deren Spuren sie emsig und mit Hingebung nachging und die sie davor schützte, fremde Art nachzuahmen und dem Banne dieser zu verfallen. (…) Ohne rechts oder links zu sehen, ohne mit dieser oder jener ‚Richtung‘ zu liebäugeln, hat sie geradeaus den Blick auf die Natur gerichtet, einzig ist immer das ganze Streben darauf gerichtet, wenn sie ein Porträt schafft, auf diesem auch gleich die ganze Persönlichkeit herauszuholen. Ihre Technik ist frei und wird auch im Kleinen niemals kleinlich und niemals ängstlich. Es ist Frische und Kühnheit in ihr. Ganz bemerkenswert ist ihre Charakterisierungskunst. Ihre Bildnisse leben förmlich.«
Der Text endet mit dem Hinweis, dass sich die Künstlerin bereits »weiterer schöner Aufträge zu erfreuen« habe. Vermutlich zählte dazu auch schon das Porträtmedaillon für das Heger-Grabmal.
In den folgenden Jahren, bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, war Irma Stuart Willfort regelmäßig mit Statuetten, Studien- und Porträtköpfen in verschiedenen Ausstellungen vertreten, vor allem im Österreichischen Künstlerbund, dessen Mitglied sie war. Besondere Aufmerksamkeit erlangte sie, dank des prominenten Sujets, mit einem Doppelbildnis von Kronprinz Otto von Habsburg und seiner Schwester Erzherzogin Adelheid. Die laut einer zeitgenössischen Beschreibung »in zarten Farben keramisch ausgeführt[e]« Zweifigurengruppe entstand 1917 anlässlich des sechsten Hochzeitstags von Kaiser Karl und Kaiserin Zita.

[aus: Sport & Salon, 21. Oktober 1917, S. 5
Bildquelle: Österreichische Nationalbibliothek/ANNO]
Das, soweit ich sehe, einzige heute noch hin und wieder erwähnte oder sogar abgebildete Werk der Bildhauerin ist hingegen eine Porträtbüste des Schriftstellers Josef Weinheber aus dem Jahr 1916. Der junge Dichter verkehrte damals häufig in Stuart Willforts Gersthofer Villa und hatte sogar eine kurze, doch recht intensive Beziehung mit der Bildhauerin. Die zehn Jahre ältere Künstlerin brach die Sache aber relativ bald wieder ab, nicht zuletzt, heißt es, aufgrund des Altersunterschieds. Für ihren »Nachruhm«, sofern man davon überhaupt sprechen kann, ist die kurze Beziehung aber von zentraler Bedeutung: Wenn Stuart Willforts Name heute noch Erwähnung findet, dann fast nur noch als Fußnote oder Randnotiz in der Weinheber-Literatur.
Obwohl Irma Stuart Willfort als Bildhauerin durchaus erfolgreich war, konnte sie, wie es scheint, nicht von ihrer Kunst leben – oder zumindest nicht so leben, dass sich der Erhalt einer Villa in Gersthof ausging. Ab 1911 finden sich in Wiener Zeitungen nämlich immer wieder Annoncen, in denen ein (oder mehrere) Zimmer ihrer Villa in der Ferrogasse zur Miete angeboten werden. Um einen Zuverdienst zu haben, gab die Künstlerin offenbar auch Unterricht. Jedenfalls erschien im Neuen Wiener Tagblatt vom 15. Oktober 1911 folgendes Inserat: »Von Paris zurückgekehrt, erteilt Modellier- und Zeichenunterricht zu mäßigen Preisen I. St. Willfort, 18. B., Ferrogasse 3.«
Von besonderem Interesse ist hier der Hinweis auf einen vorangegangenen Paris-Aufenthalt. Seine Hervorhebung in der Annonce suggeriert, dass Stuart Willfort sich dort künstlerisch fortbildete, doch konnte ich dazu leider keine weiteren Details finden. In jedem Fall bot ihr die Reise aber wohl Gelegenheit zu einem Familienbesuch, denn einer ihrer Brüder – der Klaviervirtuose, Komponist und Musikpädagoge Egon Stuart Willfort – lebte seit 1909 in der französischen Hauptstadt.
Sind die Quellen zu Irma Stuart-Willforts Leben und Werk schon für die Zeit bis 1918 eher spärlich, so versiegen sie nach dem Ende des Ersten Weltkriegs fast völlig. Es scheint, dass sie in der Zwischenkriegszeit hauptsächlich als Keramikerin tätig war. Zumindest handelt es sich bei allen ihrer Werke aus jenen Jahren, die ich bislang finden konnte, um keramische Arbeiten. (Siehe hier, hier und hier.) Neben künstlerischen Gründen könnten auch komerzielle Überlegungen eine Rolle in dieser Hinwendung zur Keramik gespielt haben: Die Auftragslage für Bildhauer:innen war in den wirtschaftlich schwierigen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg denkbar schlecht, und viele sahen sich daher gezwungen, sich auf kleinformatige Deko-Objekte zu verlegen, da diese besser vermarktbar waren.
Über Irma Stuart Willforts späteres Leben konnte ich dann überhaupt nicht mehr in Erfahrung bringen, als dass sie hochbetagt im Jahr 1969 verstarb. Um ein klareres Bild von ihrer Biographie zu gewinnen, ist also noch einiges an Recherche vonnöten. Auch für ihre Werke gilt fast ausnahmslos: Verbleib unbekannt. In den Katalogen der großen öffentlichen Sammlungen Wiens (Wienmuseum, MAK, Belvedere) scheint jedenfalls keine ihrer Arbeiten auf. Immerhin gibt es auf einer Website zu Josef Weinheber den Hinweis, dass sich Stuart Willforts Porträtbüste des Dichters heute im Bezirksmuseum Ottakring befinde. Ich hatte allerdings noch keine Gelegenheit, die Richtigkeit dieser Angabe zu überprüfen. Sicher kann ich jedoch sagen, dass sich das Heger-Grabmal am Zentralfriedhof tagsüber uneingeschränkt und bei freiem Eintritt besichtigen lässt. Interessierte finden es in der Reihe 0, das ist an der Mauer, links vom Haupteingang. Nur ein paar Meter weiter befindet sich übrigens das weit spektakulärere Wilda-Grabmal von Hella Unger, um das es im vorigen Teil dieser Serie ging. Das lässt sich bei einem Besuch also wunderbar kombinieren.