Ein Medaillon von Irma Stuart Willfort (Bildhauerinnen am Zentralfriedhof 4)

Ende des vergangenen Jahres schrieb ich hier eine kleine Serie über Werke von Bildhauerinnen am Wiener Zentralfriedhof. Ich schloss mit der Ankündigung, die Serie in unregelmäßigen Abständen fortzusetzen, und heute ist es nun so weit: Es geht weiter mit dem Grabmal für Ignaz Jakob Heger, für das Irma Stuart Willfort (1882–1969) ein Porträtmedaillon des Verstorbenen schuf.

Wien, Zentralfriedhof, Grabmal Ignaz Jakob Heger, 1909

Der 1808 in Böhmen geborene Heger kam 1833 nach Wien, wo er sein in Olmütz begonnenes Studium der Rechte abschloss und in der Folge als Justiz- und Verwaltungsbeamter tätig war. Daneben erlernte er im Selbststudium die Stenographie und begann bald, die von Franz Xaver Gabelsberger entwickelte Kurzschrift als Privatlehrer zu unterrichten. 1842 gründete er schließlich die erste Schule für Stenographie in Wien und trug damit wesentlich zu deren Verbreitung in der Habsburgermonarchie bei – und zwar über den deutschen Sprachraum hinaus, denn zu Hegers Verdiensten zählte nicht zuletzt die Entwicklung einer Kurzschrift nach Gabelsbergers System für die tschechische Sprache.

Nach seinem Tod im Mai 1854 wurde Heger im Matzleinsdorfer Friedhof bestattet. Auf Betreiben des Gabelsberger-Stenographenzentralvereins in Wien wurde ihm 1907 jedoch vom Stadtrat ein Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof zugesprochen. Die Umbettung seiner sterblichen Überreste erfolgte schließlich im November 1909, und am 27. des Monats wurde in einem großen Festakt das für die neue Begräbnisstätte geschaffene Grabmal feierlich enthüllt.

Das von der Steinmetzfirma Wilhelm Lovrek geschaffene Monument besteht aus schwarzem schwedischen Granit. Einen großen Teil des Denkmals nimmt eine ausführliche Inschrift ein, die in goldenen Lettern sämtliche Verdienste des Verstorbenen auflistet.

Wien, Zentralfriedhof, Grabmal Ignaz Jakob Heger, 1909

Über der Inschrift prangt ein Porträtmedaillon aus weißem Carrara-Marmor. Es stammt – wie schon eingangs gesagt – von der Bildhauerin Irma Stuart Willfort. Das Bildnis wirkt ausgesprochen lebensecht und naturalistisch, auch wenn die weiche Modellierung die Prägung durch den impressionistischen Skulpturenstil jener Zeit verrät.

Wien, Zentralfriedhof, Grabmal Ignaz Jakob Heger, 1909

Das Porträtmedaillon entstand freilich mehr als ein halbes Jahrhundert nach Hegers Tod und wurde daher natürlich nicht nach dem lebenden Modell, sondern nach einer älteren Vorlage gestaltet; vielleicht nach dem (ebenfalls posthumen) Bildnis, das Jan Vilímek 1884 für die Literaturzeitschrift Zlatá Praha schuf. Im Vergleich fällt auf, dass Stuart Willfort das Gesicht etwas breiter wiedergab als die (mögliche) Vorlage, vielleicht einfach, damit es sich harmonischer in die runde Rahmenform einfügt.

Jan Vilímek, Porträt von Ignaz Jakob Heger, 1884
Bildquelle: Wikimedia Commons

Als das Grabmal für Heger entstand, war Irma Stuart Willfort gerade dabei, sich als Porträtmedailleurin einen Namen zu machen. – Die 1882 geborene Künstlerin war die Tochter des Schriftstellers und Journalisten Ferdinand Willfort, der lange Zeit Redakteur der Wiener Tageszeitung Das Vaterland war. (Über ihre Mutter konnte ich leider keine Informationen finden, außer dass ihr Vorname Emma war.) Die Familie lebte offenbar in gehobenen Verhältnissen, denn sie besaß eine Villa am Wiener Stadtrand, in Gersthof, die die Bildhauerin auch nach dem Tod des Vaters weiter bewohnte.

1909 trat Irma Stuart Willfort erstmals mit einer Reihe kleiner Porträtmedaillons an die Öffentlichkeit, denen die Internationale Sammlerzeitung im Aprilheft einen knappen, aber äußerst wohlwollenden Artikel widmete. Dem nur mit »―r.« gezeichneten Beitrag lässt sich entnehmen, dass Stuart Willfort ihre künstlerische Ausbildung bei Arthur Strasser erhalten hatte. Das legt nahe, dass sie an der Wiener Kunstgewerbeschule (der heutigen Angewandten) studierte, wo Strasser die Bildhauerei-Klasse unterrichtete.

Einen alten kunsthistorischen Topos aufgreifend, fährt der Artikel dann fort: »Ihre zweite große Lehrmeisterin war die Natur, deren Spuren sie emsig und mit Hingebung nachging und die sie davor schützte, fremde Art nachzuahmen und dem Banne dieser zu verfallen. (…) Ohne rechts oder links zu sehen, ohne mit dieser oder jener ‚Richtung‘ zu liebäugeln, hat sie geradeaus den Blick auf die Natur gerichtet, einzig ist immer das ganze Streben darauf gerichtet, wenn sie ein Porträt schafft, auf diesem auch gleich die ganze Persönlichkeit herauszuholen. Ihre Technik ist frei und wird auch im Kleinen niemals kleinlich und niemals ängstlich. Es ist Frische und Kühnheit in ihr. Ganz bemerkenswert ist ihre Charakterisierungskunst. Ihre Bildnisse leben förmlich.«

Der Text endet mit dem Hinweis, dass sich die Künstlerin bereits »weiterer schöner Aufträge zu erfreuen« habe. Vermutlich zählte dazu auch schon das Porträtmedaillon für das Heger-Grabmal.

In den folgenden Jahren, bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, war Irma Stuart Willfort regelmäßig mit Statuetten, Studien- und Porträtköpfen in verschiedenen Ausstellungen vertreten, vor allem im Österreichischen Künstlerbund, dessen Mitglied sie war. Besondere Aufmerksamkeit erlangte sie, dank des prominenten Sujets, mit einem Doppelbildnis von Kronprinz Otto von Habsburg und seiner Schwester Erzherzogin Adelheid. Die laut einer zeitgenössischen Beschreibung »in zarten Farben keramisch ausgeführt[e]« Zweifigurengruppe entstand 1917 anlässlich des sechsten Hochzeitstags von Kaiser Karl und Kaiserin Zita.

Irma Stuart Willfort, Doppelporträt Otto und Adelheid von Habsburg, 1917
[aus: Sport & Salon, 21. Oktober 1917, S. 5
Bildquelle: Österreichische Nationalbibliothek/ANNO]

Das, soweit ich sehe, einzige heute noch hin und wieder erwähnte oder sogar abgebildete Werk der Bildhauerin ist hingegen eine Porträtbüste des Schriftstellers Josef Weinheber aus dem Jahr 1916. Der junge Dichter verkehrte damals häufig in Stuart Willforts Gersthofer Villa und hatte sogar eine kurze, doch recht intensive Beziehung mit der Bildhauerin. Die zehn Jahre ältere Künstlerin brach die Sache aber relativ bald wieder ab, nicht zuletzt, heißt es, aufgrund des Altersunterschieds. Für ihren »Nachruhm«, sofern man davon überhaupt sprechen kann, ist die kurze Beziehung aber von zentraler Bedeutung: Wenn Stuart Willforts Name heute noch Erwähnung findet, dann fast nur noch als Fußnote oder Randnotiz in der Weinheber-Literatur.

Obwohl Irma Stuart Willfort als Bildhauerin durchaus erfolgreich war, konnte sie, wie es scheint, nicht von ihrer Kunst leben – oder zumindest nicht so leben, dass sich der Erhalt einer Villa in Gersthof ausging. Ab 1911 finden sich in Wiener Zeitungen nämlich immer wieder Annoncen, in denen ein (oder mehrere) Zimmer ihrer Villa in der Ferrogasse zur Miete angeboten werden. Um einen Zuverdienst zu haben, gab die Künstlerin offenbar auch Unterricht. Jedenfalls erschien im Neuen Wiener Tagblatt vom 15. Oktober 1911 folgendes Inserat: »Von Paris zurückgekehrt, erteilt Modellier- und Zeichenunterricht zu mäßigen Preisen I. St. Willfort, 18. B., Ferrogasse 3.«

Von besonderem Interesse ist hier der Hinweis auf einen vorangegangenen Paris-Aufenthalt. Seine Hervorhebung in der Annonce suggeriert, dass Stuart Willfort sich dort künstlerisch fortbildete, doch konnte ich dazu leider keine weiteren Details finden. In jedem Fall bot ihr die Reise aber wohl Gelegenheit zu einem Familienbesuch, denn einer ihrer Brüder – der Klaviervirtuose, Komponist und Musikpädagoge Egon Stuart Willfort – lebte seit 1909 in der französischen Hauptstadt.

Sind die Quellen zu Irma Stuart-Willforts Leben und Werk schon für die Zeit bis 1918 eher spärlich, so versiegen sie nach dem Ende des Ersten Weltkriegs fast völlig. Es scheint, dass sie in der Zwischenkriegszeit hauptsächlich als Keramikerin tätig war. Zumindest handelt es sich bei allen ihrer Werke aus jenen Jahren, die ich bislang finden konnte, um keramische Arbeiten. (Siehe hier, hier und hier.) Neben künstlerischen Gründen könnten auch komerzielle Überlegungen eine Rolle in dieser Hinwendung zur Keramik gespielt haben: Die Auftragslage für Bildhauer:innen war in den wirtschaftlich schwierigen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg denkbar schlecht, und viele sahen sich daher gezwungen, sich auf kleinformatige Deko-Objekte zu verlegen, da diese besser vermarktbar waren.


Über Irma Stuart Willforts späteres Leben konnte ich dann überhaupt nicht mehr in Erfahrung bringen, als dass sie hochbetagt im Jahr 1969 verstarb. Um ein klareres Bild von ihrer Biographie zu gewinnen, ist also noch einiges an Recherche vonnöten. Auch für ihre Werke gilt fast ausnahmslos: Verbleib unbekannt. In den Katalogen der großen öffentlichen Sammlungen Wiens (Wienmuseum, MAK, Belvedere) scheint jedenfalls keine ihrer Arbeiten auf. Immerhin gibt es auf einer Website zu Josef Weinheber den Hinweis, dass sich Stuart Willforts Porträtbüste des Dichters heute im Bezirksmuseum Ottakring befinde. Ich hatte allerdings noch keine Gelegenheit, die Richtigkeit dieser Angabe zu überprüfen. Sicher kann ich jedoch sagen, dass sich das Heger-Grabmal am Zentralfriedhof tagsüber uneingeschränkt und bei freiem Eintritt besichtigen lässt. Interessierte finden es in der Reihe 0, das ist an der Mauer, links vom Haupteingang. Nur ein paar Meter weiter befindet sich übrigens das weit spektakulärere Wilda-Grabmal von Hella Unger, um das es im vorigen Teil dieser Serie ging. Das lässt sich bei einem Besuch also wunderbar kombinieren.

Das Wilda-Grabmal von Hella Unger (Bildhauerinnen am Zentralfriedhof 3)

Beitrag zur Blogparade #femaleheritage der Monacensia München

Nach kurzer Unterbrechung hier nun der dritte und letzte Teil meiner kleinen Serie zu Werken von Bildhauerinnen der Zeit um 1900 am Wiener Zentralfriedhof. Im ersten Teil ging es um das Brahms-Grabmal von Ilse Conrat, im zweiten um das Grabmal Strauß von Teresa Feodorowna Ries. Der heutige Beitrag schließlich widmet sich dem Grabmal für Charles Wilda, das 1909 von Hella Unger (1875–1934) geschaffen wurde.

Wien, Zentralfriedhof, Grabmal Charles Wilda, 1909

Die Biographie der Bildhauerin Hella Unger ist noch wenig erforscht. Was ich im Folgenden präsentiere, sind daher nur vorläufige Ergebnisse, die ich vor allem anhand von zeitgenössischen Medienberichten zusammentragen konnte. Um ein wirklich vollständiges Bild zu gewinnen, wären auf jeden Fall noch weiterführende Archiv-Recherchen vonnöten.

Hella Unger wurde am 6. Jänner 1875 geboren, vermutlich in Wien, wo sie auch aufwuchs und zeit ihres Lebens wohnhaft blieb. Ihr Vater war der deutsche Kupferstecher und Radierer William Unger (1837–1932), der seit 1871 in Wien lebte und hier ab 1881 Professor an der Kunstgewerbeschule und ab 1895 an der Akademie der bildenden Künste war; ihre Mutter Therese war eine Tochter des Weimarer Hofkonditors August Ißleib.

Von 1899 bis 1901 lässt sich Hella Unger als Schülerin an der Wiener Vereins-Kunstschule für Frauen und Mädchen nachweisen. Diese Bildungseinrichtung war erst 1897 unter anderem von den Malerinnen Olga Prager, Rosa Mayreder und Tina Blau ins Leben gerufen worden, um Frauen eine künstlerische Ausbildung zu ermöglichen. Die Klasse für Bildhauerei leitete Richard Kauffungen, der somit Ungers erster Lehrer wurde. Schon im Jahr 1900 trat Unger mit einem ersten Werk an die Öffentlichkeit: Für das Grabmal des Kupferstechers Karl von Siegl am Hietzinger Friedhof schuf sie ein Porträtmedaillon des Verstorbenen in Bronze. Realistischerweise muss man wohl annehmen, dass sie diesen Auftrag nicht zuletzt den Beziehungen ihres Vaters verdankte, denn Siegl war einer von dessen Schülern gewesen. Gleichzeitig ist zu betonen, dass sich die junge Bildhauerin damals bereits einen gewissen Ruf als Künstlerin erworben hatte: In Rezensionen zu den Ausstellungen der Vereins-Kunstschule im Juni 1899 und im Mai 1900 wurde sie als die talentierteste der Schülerinnen hervorgehoben und als eine der wenigen namentlich genannt.

Hella Unger, 1907
[aus: Sport & Salon, 30. März 1907, S. 13
Bildquelle: Österreichische Nationalbibliothek/ANNO]

1903–1904 erscheint Hella Unger dann als Studentin an der Wiener Kunstgewerbeschule – der heutigen Universität für angewandte Kunst, – wo auch ihre zwei Jahre ältere Schwester Else studierte. Auf verschiedenen Kunstgewerbe-Ausstellungen präsentierte sie in dieser Zeit dekorative Glasarbeiten, etwa „ein paar grün überfangene, tief geschliffene Blumengläser“, von denen ein Kritiker fand, sie hätten „das Zeug dazu (…), populär zu werden“. Ihr Schwerpunkt blieb jedoch die Skulptur, die sie an der Kunstgewerbeschule bei Stefan Schwartz studierte. Schwartz war insbesondere als Medailleur bedeutend, und auch Unger konzentrierte sich in diesen Jahren auf die Arbeit an Medaillen und Plaketten, die zum Teil auf internationalen Ausstellungen gezeigt und mit Preisen bedacht wurden. Sie lieferte aber auch Entwürfe für eine Trophäe der Herkomer-Konkurrenz (1906) und für ein Wiener Reiseandenken (1907).

1907 zeigte Unger auf der Frühjahrs-Ausstellung im Wiener Künstlerhaus dann erstmals monumentalere Bildhauerarbeiten. Vor allem ihre Porträtbüste des Archäologen Otto Benndorf erregte allgemeine Aufmerksamkeit. Die lebensgroße Halbfigur sei „kühn gemacht“ und „mit männlicher Energie durchgeführt“, lobten die Kritiker. Daneben war Unger auf der Ausstellung noch mit einer Kinderbüste vertreten und mit der Skulptur Rast, einer ebenfalls lebensgroßen Aktfigur, die einen sitzenden Sklaven darstellte. Auch Letztere fand die Zustimmung der Kritik; mit Blick auf den ersten Teil dieser Serie ist besonders das Urteil der Tageszeitung Die Zeit von Interesse: „Diese sitzende und sinnende Gestalt erinnert an manche ähnliche, die wir in diesem Saal von der Feodorowna Riesz (sic) gesehen haben. Aber Hella Unger ist von Mätzchen und von koketter Pose frei, ist ehrlicher, wenn auch technisch noch nicht so gewitzt wie die Riesz.“

Wien, Zentralfriedhof, Grabmal Charles Wilda, 1909

Zwei Jahre später, 1909, schuf Unger mit dem Grabmal für Charles Wilda ein ähnlich monumentales, ähnlich aufsehenerregendes Werk. Danach führte sie, wie es scheint, keine Arbeiten größeren Formats mehr aus, wohl auch, weil es aufgrund der mit dem Ersten Weltkrieg einsetzenden Verschlechterung der Wirtschaftslage weniger große Aufträge für Bildhauer:innen gab. Der Schwerpunkt von Ungers künstlerischer Tätigkeit blieb damit im Bereich der Kleinplastik. Sie fertigte vor allem Porträtbüsten, -medaillons und -plaketten und war insbesondere auf Kinderporträts spezialisiert. Als eine ihrer wenigen Arbeiten für den (halb-)öffentlichen Raum ist ihre zweite, kleinere Porträtbüste von Otto Benndorf hervorzuheben, die sie 1929 für die Gelehrtenreihe im Arkadenhof der Universität Wien schuf.

Neben ihrer eigentlichen bildhauerischen Arbeit war Unger auch als Lehrerin tätig – unter anderen war die Bildhauerin Hanna Blaschczik ihre Schülerin – und engagierte sich für Frauenrechte. So war sie 1910 wie Ilse Conrat ein Gründungsmitglied der Vereinigung bildender Künstlerinnen Österreichs (VBKÖ). 1913 gehörte sie dem Künstlerinnenkomitee für die große Frauenstimmrechts-Konferenz, die im Juni des Jahres in Wien stattfand, an.

Hella Unger starb am 5. August 1934 in Wien, wo sie im Friedhof Ober-St.-Veit ihre letzte Ruhestätte fand.

Wien, Zentralfriedhof, Grabmal Charles Wilda, 1909

Das Grabdenkmal für Charles Wilda nimmt in Ungers Œuvre eine herausragende Stellung ein. Es ist nicht nur eine ihrer größten Arbeiten, sondern auch eine der wenigen, die für eine permanente Aufstellung an einem öffentlichen Ort geschaffen wurden. Der 1907 verstorbene Wilda war ein zu Lebzeiten populärer, heute aber weitgehend vergessener Maler. Vor allem für seine romantisierenden Genrebilder aus Ägypten bekannt, zählte er zu den Hauptvertretern des Orientalismus in der österreichischen Kunst um 1900. Auf diesen Aspekt seines Werks nimmt auch die Ikonographie des Grabmals Bezug: „Das Denkmal (…) stellt einen Grufteingang dar, aus dem eben ein Fellachenknabe tritt, der sich im Schmerz an die Pfeiler der Gruft klammert, eine gute Charakterisierung des Meisters der Farben und begabten Schilderer (sic) des Orients“, schrieb etwa die Österreichische Illustrierte Zeitung anlässlich der feierlichen Enthüllung des Monuments Ende Oktober 1909, wenige Tage vor Allerheiligen. Eine andere zeitgenössische Beschreibung spricht von einem „Grufteingang (…), an dem ein junger Araber trauernd lehnt.“

Wien, Zentralfriedhof, Grabmal Charles Wilda, 1909

Heute wird die bronzene Jünglingsfigur meist anders gedeutet: nicht als schmerzvoller Trauernder, sondern als Auferstehender, der aus der Gruft tritt und sich, wie im Aufwachen, dehnt und streckt. In seinem Standardwerk zur Wiener Grabskulptur des Historismus bezeichnet der Kunsthistoriker Werner Kitlitschka Ungers Bronzeskulptur als „eine der künstlerisch überzeugendsten Darstellungen der Auferstehung überhaupt.“

Mit diesem prägnanten Zitat bin ich nun am Ende des heutigen Beitrags, aber auch der Serie angelangt. Es ist jedoch nur ein vorläufiges Ende. Denn am Wiener Zentralfriedhof gibt es ja noch Werke von anderen Bildhauerinnen, und auch Ilse Conrat, Teresa Feodorowna Ries und Hella Unger haben hier und auf anderen Friedhöfen noch weitere Grabmäler geschaffen. Über kurz oder lang werde ich sicher das eine oder andere davon hier im Blog vorstellen. Fortsetzung folgt also …


P. S.: Da heute der letzte Tag der Blogparade ist, teile ich den Beitrag schon einmal in noch nicht ganz fertigem Zustand – es fehlen noch die Fußnoten mit den Quellenbelegen. Ich werde sie in den nächsten Tagen nachtragen.

Das Brahms-Grabmal von Ilse Conrat (Bildhauerinnen am Zentralfriedhof 1)

Beitrag zur Blogparade #femaleheritage der Monacensia München

Wien, Zentralfriedhof, Partie aus dem ‚Musikerboskett‘ mit den Grabmälern der Komponisten Adolf Müller, Franz Schubert und Johannes Brahms

Mehr noch als die Malerei war das Feld der Skulptur lange Zeit eine fast reine Männerdomäne. Zwar gab es spätestens seit der Renaissance immer wieder auch Frauen, die sich erfolgreich als Bildhauerinnen betätigten – eine Properzia de’ Rossi ließe sich hier ebenso anführen wie etwa Luisa Roldán oder Marie-Anne Collot – doch blieben diese in ihrer jeweiligen Zeit und Umgebung meist isolierte Ausnahmeerscheinungen. Erst in den Jahren um 1900 konnten Frauen sich in größerer Zahl als Bildhauerinnen etablieren und ihre Werke regelmäßig in prominenten Kunstausstellungen, aber auch im öffentlichen Raum platzieren. Ein wichtiges Betätigungsfeld bildete dabei, genau wie für ihre männlichen Kollegen, die Grabskulptur.

Auch unter den Grabdenkmälern am Wiener Zentralfriedhof findet man daher gar nicht so wenige Werke von Bildhauerinnen aus dem beginnenden 20. Jahrhundert. Das obige Foto etwa zeigt eine Partie aus dem ‚Musikerboskett‘ (Gruppe 32A) der dortigen Ehrengräberabteilung: Gleich zwei der drei darauf zu sehenden Denkmäler wurden von Frauen geschaffen.

Wien, Zentralfriedhof, Grabdenkmal für Adolf Müller, 1904

Da ist zunächst links im Vordergrund das vergleichsweise schlichte Monument für den Theaterkomponisten Adolf Müller, eine steinerne Stele mit einem Bronzemedaillon, das ein Porträt des Verstorbenen zeigt. Zeitungsberichte über die Enthüllung des Monuments im November 1904 bezeichnen es als „ein Werk der Bildhauerin Fräulein Brosch“.1 Leider ist es mir nicht gelungen, weitere Informationen über diese Künstlerin aufzuspüren. Nicht einmal ihren Vornamen konnte ich bislang herausfinden. Zwar ist das Relief signiert, doch gerade der Vorname besteht aus nicht viel mehr als einigen groben Kerben im Metall, die sich nicht schlüssig entziffern lassen …

Es gibt am Wiener Zentralfriedhof aber auch Denkmäler von Bildhauerinnen, bei denen wir wesentlich mehr über die Urheberinnen wissen – und die auch künstlerisch spannender sind als der doch eher biedere Gedenkstein für Adolf Müller. Drei davon will ich heute und in den kommenden Wochen als eine kleine Serie vorstellen.

Wien, Zentralfriedhof, Grabdenkmal für Johannes Brahms, 1902–1903

Nur wenige Schritte vom Müller’schen Denkmal entfernt steht jenes für den ungleich berühmteren Johannes Brahms, das in den Jahren 1902–1903 von Ilse Conrat (1880–1942) geschaffen wurde.

Conrat war gebürtige Wienerin und wuchs in ihrer Heimatstadt in einem großbürgerlichen, musik- und kunstaffinen Elternhaus auf. (Ihre jüngere Schwester war die bekannte Kunsthistorikerin Erica Tietze-Conrat.) In Wien erhielt sie durch Josef Breitner auch ihren ersten Unterricht in der Bildhauerei, ehe sie 1898 nach Brüssel ging, um ihre Ausbildung bei Charles van der Stappen fortzusetzen.

Ilse Conrat
[aus: Anton Hirsch, Die bildenen Künstlerinnen der Neuzeit,
Stuttgart 1905 (Quelle: Wikimedia Commons/gemeinfrei)]

1901 nach Wien zurückgekehrt, konnte Ilse Conrat sich rasch als Künstlerin etablieren und erhielt zahlreiche Aufträge, vor allem für Grabmäler und Porträtbüsten. In den folgenden Jahren stellte sie regelmäßig in der Wiener Secession, aber auch in München, Breslau, Rom und Venedig aus. 1910 wurde sie Vizepräsidentin der neugegründeten Vereinigung bildender Künstlerinnen Österreichs (VBKÖ) und beteiligte sich in dieser Funktion an der Organisation der wegweisenden Ausstellung Die Kunst der Frau in der Secession. Im selben Jahr heiratete sie den preußischen Generalmajor Ernst August Dobrogast von Twardowski und begab sich mit ihm für mehrere Jahre auf Reisen. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, ließ sich das Paar schließlich in München nieder.

Die wirtschaftlich schwierige Lage während und nach dem Krieg führte zu einem drastischen Rückgang der Aufträge für die Bildhauerin. Conrat musste sich zunehmend auf das Gestalten kleinerer Objekte für die Porzellanmanufaktur Allach verlegen. Dank der Förderung durch Ilse Leembruggen konnte sie aber auch in der Zwischenkriegszeit noch einige größere Arbeiten ausführen.

Obwohl Conrat jüdischer Abstammung war, konnte sie sich anfänglich für die Ideologie des Nationalsozialismus erwärmen. Erst als ihr 1935 die Mitgliedschaft in der Reichskammer der bildenden Künste verwehrt wurde, was de facto einem Berufsverbot gleichkam, begann ihre Begeisterung für die neuen Machthaber zu schwinden. Die Künstlerin zog sich in der Folge in die ‚innere Emigration‘ zurück. Als sie im Sommer 1942 deportiert werden sollte, nahm sich Ilse Conrat das Leben.

Wien, Zentralfriedhof, Grabdenkmal für Johannes Brahms, 1902–1903

Das Grabmal für Johannes Brahms war Conrats erste größere öffentliche Arbeit. Was sie für diesen Auftrag ‚qualifizierte‘, war neben ihrem Talent auch der Umstand, dass Brahms zu Lebzeiten in engem Kontakt zu ihrer Familie gestanden war und sie schon unmittelbar nach seinem Tod 1897 eine vielbeachtete Porträtbüste des Komponisten geschaffen hatte. Obwohl Brahms in einem von der Stadt Wien gewidmeten Ehrengrab bestattet wurde, dauerte es nach seinem Tod noch einige Jahre, bis aus Spenden und dem Erlös von Benefizkonzerten genug Geld beisammen war, um ihm ein prachtvolles Grabdenkmal zu errichten. Im Oktober 1902 war es schließlich so weit, und Conrats Entwurf wurde vom Wiener Stadtrat bewilligt.2 Etwas mehr als ein halbes Jahr später, am 7. Mai 1903 – Brahms 70. Geburtstag – wurde das fertige Monument feierlich enthüllt.3 Die Wiener Tageszeitung Die Zeit brachte anlässlich dieser Feier eine ausführliche Würdigung des Werks:

„Das von Ilse Conrat ausgeführte Marmordenkmal besteht aus einer außerordentlich lebenstreuen, ungemein fein durchgebildeten Büste des Meisters in jener Stellung, in der ihn das Wiener Concertpublicum bei den Musikaufführungen in der Directionsloge des großen Musikvereinssaales sehen konnte: den schönen, von langem Haar und Bart umrahmten Kopf nachdenklich in die rechte Hand gestützt, während die Linke die auf der Brüstung aufliegende Partitur hält. Die Büste steht auf einem in vornehmen, einfach-ernsten Linien gehaltenen Postament, das architektonisch mit einer gleichsam wie ein Gobelinvorhang wirkenden Reliefwand verbunden ist, von der sich die freistehende Büste scharf abhebt. Das Relief stellt einen sonnigen Hügel dar, zu dessen Höhe ein schlankes nacktes Weib mit hochgehaltener Leier hinanschreitet; von der Leier weht ein flimmernder Schleier herab, dessen einen Zipfel ein trauernder Jüngling inbrünstig an die Lippen führt (…).“4

Wien, Zentralfriedhof, Grabdenkmal für Johannes Brahms, 1902–1903

Die inhaltliche Bedeutung der beiden Relieffiguren im Hintergrund umriss die Künstlerin selbst mit den folgenden Worten: „Die Muse trägt die ausgeklungene Leier wie ein Heiligtum gegen den Himmel, gleichsam, als wollte sie das köstliche Kleinod der Gottheit zurückstellen. Ein Schleier weht von der Leier herab; es ist die unsterbliche Musik des Meisters, die unter uns fortlebt! Der Jüngling drückt den Schleier an seine Lippen und bringt das tönende Vermächtnis der Menschheit hinunter zum Trost!“5

Die Auf- und Abwärtsbewegung der beiden Figuren findet ihr Echo im architektonischen Rahmen des Grabmals: Ein flacher Bogen mit jugendstil-mäßigem Schwung bildet dessen oberen Abschluss. Wie man heute weiß, war an der Konzeption des Monuments tatsächlich auch ein Experte aus dem Baufach beteiligt: der belgische ‚Stararchitekt‘ Victor Horta, den Conrat aus ihrer Brüsseler Zeit kannte.6

Wien, Zentralfriedhof, Grabdenkmal für Johannes Brahms, 1902–1903

Trotz der Beteiligung Hortas kann jedoch kein Zweifel bestehen, dass Qualität und Bedeutung des Brahms-Denkmals am Zentralfriedhof primär im Bereich des Skulpturalen liegen. Vor allem das subtile Relief der Hintergrundwand zählt mit zum Besten, was die Wiener Grabskulptur um 1900 zu bieten hat: Die den Betrachter:innen zugewandte Seite der Figuren ist plastisch und voluminös herausgearbeitet; die abgewandte Seite hingegen – nicht zuletzt der Kopf der Frau–, aber auch Lyra und Schleier sind so flach und so fein gearbeitet, dass sie sich fast malerisch in der Hintergrundfläche aufzulösen scheinen. Mehr noch als in der Porträtbüste des Verstorbenen zeigt sich hier die technische Meisterschaft der Bildhauerin Ilse Conrat.

Wien, Zentralfriedhof, Grabdenkmal für Johannes Brahms, 1902–1903
(Detail: Signatur Ilse Conrats)

Quellen / Lektüreempfehlungen

Ausführlichere, teils illustrierte Beschreibungen von Ilse Conrats Leben bieten:


1. Neues Wiener Tagblatt, 10. Nov. 1904, S. 9 [digital auf ANNO]. Mehr oder weniger wortgleiche Formulierungen erschienen auch in anderen Wiener Blättern, z. B. in: Wiener Bilder, 16. Nov. 1904, S. 7 [digital auf ANNO].

2. Wiener Zeitung, 16. Oktober 1902, S. 7 [digital auf ANNO].

3. Vgl. Ostdeutsche Rundschau, 7. Mai 1903, S. 2 [digital auf ANNO]; Die Zeit, 7. Mai 1903 (Abendblatt), S. 3 [digital auf ANNO].

4. Die Zeit, 6. Mai 1903 (Abendblatt), S. 4 [digital auf ANNO].

5. Ostdeutsche Rundschau, 7. Mai 1903, S. 2 [digital auf ANNO].

6. Vgl. Sabine Plakolm-Forsthuber, Stein der Sehnsucht, Stein des Anstoßes: drei Bildhauerinnen der Jahrhundertwende, in: Die Frauen der Wiener Moderne, hrsg. von Lisa Fischer u. Emil Brix, Wien 1997, S. 179-193, hier S. 187.

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