St. Marxer Gesichter

Jetzt, wo der April sich allmählich seinem Ende zuneigt, beginnt am St. Marxer Friedhof schon alles zu grünen und zu blühen, nur die berühmte Fliederblüte lässt heuer noch ein wenig auf sich warten. Aber natürlich gibt es auch sonst jede Menge Sehenswertes, und bei meinen letzten Besuchen ist mir manches Neue ins Auge gestochen: Schwanzmeisen und Feldhamster zum Beispiel, die mir zuvor noch nie am Friedhof begegnet waren.

Was mir in letzter Zeit aber ganz besonders aufgefallen ist, sind die vielen kleinen Gesichter an den Grabdenkmälern. Nicht die Gesichter der eigentlichen Grabfiguren, der großen Engel und Genien, sondern die winzigen, maskenhaften Gesichter, die als Architekturschmuck in Giebel und Zwickel der Grabsteine eingepasst sind und oft nur hervorstechen, wenn gerade zufällig ein Sonnenstrahl auf sie fällt. Hier eine kleine Auswahl davon:

Wintersonne | St. Marxer Friedhof

Es ist fast schon so etwas wie eine Tradition, dass ich in den ersten Tagen eines neuen Jahres einen ausgiebigen Friedhofsspaziergang unternehme. Meist fahre ich dazu auf den Wiener Zentralfriedhof; da ich aber pandemiebedingt gerade öffentliche Verkehrsmittel meide, drehte ich heuer zur Abwechslung eine Runde am St. Marxer Friedhof, den ich von meiner Wohnung bequem zu Fuß erreiche. Das trifft sich aber ohnehin gut: Ein Blick in den Entwürfe-Ordner des Blogs zeigt nämlich, dass der Januar ganz im Zeichen von St. Marx stehen wird. Gleichsam zur Einstimmung auf die kommenden Beiträge hier daher eine kleine Bilderstrecke vom heutigen Spaziergang.

Schneebericht | St. Marxer Friedhof

Ich unterbreche nur ungern die begonnene Serie zu den Bildhauerinnen am Wiener Zentralfriedhof, aber man soll die Feste bekanntlich feiern, wie sie fallen, und letzte Nacht gab es zum ersten Mal diesen Winter Schneefall in Wien. Ich konnte daher nicht widerstehen, gleich nach dem Frühstück einen Hüpfer auf den St. Marxer Friedhof zu machen, und will die fotografische Ausbeute davon hier teilen, so lange sie noch frisch ist …

Der Weg zum Friedhof ist heute Vormittag kein sonderlich schöner, denn auf den Straßen und Gehsteigen haben Autos und Fußgänger, Streu- und Räumdienste den nächtlichen Schnee schon zu nassgrauem Matsch verwandelt. Im Friedhof selbst aber liegt er noch so dick und weiß wie auf einer kitschigen Weihnachtspostkarte.

Auf den Hauptwegen des Friedhofs sieht man schon einzelne Fußspuren von frühen Spaziergänger:innen, aber zwischen den Gräberreihen ist die Schneedecke noch so unberührt, dass man sich fast scheut, sie zu betreten.

Dichter:innen mit einem Hang zu Romantik und Metaphorik verwendeten früher gern das Bild des Leichentuchs, wenn sie von schneebedeckten Friedhöfen schrieben. Der Biedermeier-Schriftsteller Karl Johann Braun von Braunthal etwa dichtete in seinen Winterliedern von 1836:

Das Bahrtuch liegt gebreitet
Wohl über Stadt und Land,
Den Kirchhof Erd’ umfriedet
Die weiße Himmelswand.

Denksteine, klein’ und große,
Seh’n aus dem Schnee hervor,
Die schönsten – für Paläste
Hält sie der Mensch, der Tor!

Das sind, zugegeben, nicht unbedingt die besten Verse, die je geschrieben wurden, und ich teile sie hier eigentlich auch nur darum, weil Braun von Braunthal selbst in St. Marx begraben liegt. Zu den Denksteinen, die ich auf dem heutigen Spaziergang aus dem Schnee hervorragen sehe, zählt auch der seine.

Der Schnee, sagt man, dämpft alle Geräusche, aber so ganz stimmt das leider nicht: Tatsächlich schluckt er vor allem die hohen Frequenzen, und so ist das tiefe, einförmige Brummen der Autos von der nahen Südosttangente heute im Friedhof fast dominanter als sonst. Nur hie und da übertönen die obligatorischen Krähen mit einem lauten, plötzlichen Krächzen den Lärm des Verkehrs. In den Bäumen und Sträuchern an der Friedhofsmauer hingegen zwitschern die Meisen und flitzen, halb hüpfend, halb fliegend, zwischen den Zweigen umher.

Schon auf dem Weg zum Ausgang, höre ich, dass sich in dem Baum direkt über mir etwas bewegt. Wie ich hinaufschaue, sehe ich zwei Buntspechte, die dicht übereinander hinter einem Ast hervorlugen. Die roten Stellen in ihrem Gefieder ein Echo der Berberitzen, deren kleine Fruchttrauben immer noch über die Grabsteine hängen.

Kurz bin ich versucht, noch ein letztes Mal die Kamera zu zücken, um die beiden Vögel damit einzufangen, aber wahrscheinlich, denke ich, fliegen sie dann just den Moment auf und davon, wenn ich auf den Auslöser drücke … Ich beschließe also, es bleiben zu lassen, und gehe.

Spätherbst am Zentralfriedhof

In den nächsten Wochen werde ich hier eine Reihe von Grabskulpturen am Wiener Zentralfriedhof vorstellen. Kurz vor Allerheiligen, am einzigen Sonnentag in einer sonst regengrauen Woche, war ich daher noch schnell dort, um Fotos für die Beiträge zu machen. Natürlich konnte ich nicht widerstehen, dabei auch ein paar Herbstimpressionen festzuhalten. Heute daher ausnahmsweise ein (fast) reiner Fotobeitrag …

Natürlich, der St. Marxer Friedhof

Ich kann nicht mehr mit Sicherheit sagen, wann meine vage Faszination für alte Friedhöfe sich zu einem handfesten Forschungsinteresse ausgewachsen hat, aber zehn Jahre ist es gewiss schon her. Ich weiß auch nicht genau, wie viele Friedhöfe ich seither besucht und besichtigt habe, aber ein paar Dutzend werden es schon sein. Fest steht aber, dass ich keinen davon so oft besucht habe wie jenen von St. Marx, im Südosten Wiens. Das hat zunächst einmal den ganz banalen Grund, dass er in Gehnähe von meiner Wohnung liegt. Er ist also quasi mein Haus- und Hoffriedhof. Er ist aber durchaus auch so etwas wie mein Lieblingsfriedhof – nicht zuletzt, weil er in den bald 150 Jahre seit seiner Schließung als Begräbnisort zu einem phantastisch verwilderten Park geworden ist: Seine Denkmäler werden von alten Kastanienbäumen beschattet, die Gräber und Wege sind von Sträuchern überwuchert. Im Frühjahr blüht hier der Flieder so dicht und üppig wie nirgends sonst in Wien …

Heuer habe ich die Fliederblüte in St. Marx zum ersten Mal seit Jahren versäumt. Im März, als weite Teile Europas in den pandemiebedingten ‚Lockdown‘ gingen, befand ich mich gerade an meinem Zweitwohnsitz in London. Ich beschloss, den Frühling und Sommer über dort zu bleiben, in der leider trügerischen Hoffnung, man würde die Pandemie mit entsprechenden Maßnahmen bis zum Herbst halbwegs in den Griff bekommen. In Gedanken aber zog es mich in dieser Zeit doch immer wieder nach St. Marx, und ich begann, quasi aus der Ferne, ein Buch über den Friedhof zu schreiben und über seine bekannten und unbekannten Toten …

Es war daher nur naheliegend, dass mich mein erster Weg nach St. Marx führte, als ich Anfang Oktober schließlich doch nach Wien zurückkehrte. Der Friedhof hatte sich während meiner Abwesenheit verändert. Seit einigen Jahren läuft nämlich eine großangelegte Instandsetzungskampagne vonseiten der Stadt Wien, und wohl wegen meiner längeren Abwesenheit stach mir der Fortschritt der Arbeiten mehr ins Auge als sonst. Bei meinem Rundgang fielen mir zahlreiche Grabmäler auf, die offenbar seit meinem letzten Besuch im Jänner frisch restauriert worden waren.

Die Kalksteinoberflächen dieser Monumente strahlen nun wieder wie neu, fast wie die weiße Wäsche in der Waschmittelwerbung. Hell und leuchtend heben sich diese Denkmäler nun von ihrer Umgebung ab. So sehr, dass sie beinahe fremd wirken zwischen den altersgrauen Monumenten, die von Regen und Abgasen dunkel geworden, nach wie vor den Charakter des Friedhofs bestimmen …

Noch mehr als die Grabmäler ziehen um diese Jahreszeit jedoch die Berberitzensträucher die Aufmerksamkeit auf sich. Anfang, Mitte Oktober, wenn ihre kleinen Früchte reif sind, scheint es, als wäre der Friedhof mit roten Farbtupfern besprenkelt.

An den Bäumen beginnen sich derweil die Blätter gelblich zu verfärben, während an manchen Stellen wilder Wein sich tiefrot über die Gräber rankt.

Die Fliederblüte habe ich dieses Jahr versäumt – aber wenn ich ehrlich bin, dann ist mir der Friedhof ohnehin am liebsten, wenn der Herbst in seinen Mauern Einzug hält.

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