Beitrag zur Blogparade #femaleheritage der Monacensia München
Vergangene Woche habe ich hier eine kleine Serie zu Werken von Bildhauerinnen der Zeit um 1900 am Wiener Zentralfriedhof begonnen. Im ersten Teil ging es um das Brahms-Grabmal, das 1902–1903 von Ilse Conrat geschaffen wurde. Mehr oder weniger gleichzeitig entstand das ‚Grabmal Strauß‘ von Teresa Feodorowna Ries (1866–1956), das im Zentrum des heutigen Beitrags steht.

Teresa Feodorowna Ries wurde 1866 in Budapest geboren, übersiedelte aber bald mit ihrer Familie nach Moskau. Einem wohlhabenden jüdischen Elternhaus entstammend, erfüllte sie zunächst die Erwartungen, die man an ein ‚Mädchen aus gutem Haus‘ stellte und ging früh eine Ehe ein. Diese zerbrach jedoch nach kurzer Zeit, Ries kehrte zu ihren Eltern zurück und begann an der Moskauer Kunsthochschule Malerei zu studieren. Nun erfüllte sie keine Erwartungen mehr. Im Gegenteil, sie flog sogar von der Kunsthochschule, weil sie es gewagt hatte, einem der Herren Professoren öffentlich Widerworte zu geben. In der Folge bildete sie sich autodidaktisch weiter, nun allerdings nicht mehr als Malerin, sondern als Bildhauerin.
1895 ging Ries nach Wien, um hier ihre künstlerische Ausbildung fortzusetzen. An der Akademie der bildenden Künste wurde sie jedoch nicht zum Studium zugelassen, da diese (bis 1920/21) nur Männer aufnahm. In ihrer 1928 erschienenen Autobiographie Die Sprache des Steines erinnerte Ries sich an diese Erfahrung: „Mein Gott, Schüler sein dürfen, Jünger irgendeines großen Meisters, von dem man lernen konnte! Arbeit schaffen dürfen! Und ich sollte davon ausgeschlossen sein, weil ich eine Frau war?!“1 Am Ende fand sie aber doch einen Lehrer: Edmund Hellmer, der wohl bedeutendste Wiener Bildhauer jener Zeit und Professor der Skulpturklasse an der Akademie, war von einer Probearbeit der angehenden Künstlerin so beeindruckt, dass er sich bereiterklärte, ihr Privatunterricht zu erteilen.2
Ries wurde bald zu einer wichtigen Mitarbeiterin in Hellmers Atelier, erzielte jedoch ebenso bald mit eigenen Werken erste Erfolge. 1896 zeigte sie auf der Frühjahrsausstellung im Wiener Künstlerhaus die Skulptur Hexe bei der Toilette für die Walpurgisnacht. Das Werk sorgte allgemein für Furore, ja geradezu für einen Skandal. Dass es sich um eine weibliche Aktfigur mit erotischer Strahlkraft handelte, ging ja noch an, aber dass diese bei einer so banalen Tätigkeit wie dem Schneiden der Zehennägel dargestellt wurde, war manchen dann doch zu, sagen wir, unkonventionell. Und dass diese Skulptur dann noch von einer Frau geschaffen worden war, setzte dem Ganzen die Krone auf! Ries selbst erhielt für das Werk nun zwar keine Krone, aber immerhin eine Goldmedaille und wurde quasi über Nacht berühmt.
Es würde zu weit führen, an dieser Stelle Ries’ ganzes Schaffen detailliert nachzuzeichnen. Gesagt sei daher nur: Die Hexe blieb nicht ihr einziger großer Erfolg, und Ries blieb bis weit in die Zwischenkriegszeit hinein eine der führenden Bildhauer:innen von Wien. Erst der Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland im März 1938 setzte Ries’ Karriere ein erzwungenes Ende. Ihr Atelier im Palais Liechtenstein wurde arisiert, viele ihrer Werke wurden als ‚entartet‘ zerstört. Bis 1942 blieb die Künstlerin dennoch in Wien, dann erst floh sie in die Schweiz, nach Lugano, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1956 lebte.
Zu Ries’ größten Erfolgen zählt auch das Grabmal Strauß am Zentralfriedhof. Vor der Aufstellung an seinem Bestimmungsort wurde das monumentale Bildwerk 1903 in der Frühjahrsausstellung der Wiener Secession gezeigt, wo es große Aufmerksamkeit erregte. Im Katalog der Ausstellung erscheint es unter dem Titel Die Seele kehrt zu Gott zurück. Grabdenkmal für einen Jüngling.3 Über die Identität des Verstorbenen finden sich in der Literatur keine Angaben, die über den Nachnamen hinausgehen, und auch am Grab selbst gibt es keine entsprechenden Hinweise (mehr).
Bemerkenswert für eine Grabskulptur ist, dass sie ganz ohne architektonisches Beiwerk wie Rahmung oder Sockel auskommt. Ries gestaltete eine freistehende, überlebensgroße Figurengruppe, der man noch deutlich den Steinblock ansieht, aus dem sie herausgearbeitet wurde. Die hochaufragende Gestalt Gottes umfängt die aufstrebende Seele in einem schützenden Mantel, der allerdings nicht im Detail ausgeführt, sondern nur angedeutet ist. Die Oberflächen sind großteils rau belassen. Nur die als nackte Jünglingsgestalt wiedergegebene Seele ist ein wenig glatter und feiner ausgearbeitet. Ihr zurückgelehnter Kopf wird von der wuchtigen Hand Gottes gestützt und geborgen.

Wie schon die zeitgenössischen Kritiker einhellig bemerkten, steht das Grabmal Strauß deutlich unter dem Einfluss Auguste Rodins.4 Ries selbst wies eine solche Abhängigkeit freilich stets von sich. Auf den Einfluss Rodins, aber auch den ihres Lehrers Hellmers angesprochen, betonte sie 1906 im Gespräch mit dem Neuen Wiener Journal: „Ich habe nichts gelernt, ich wüßte nichts, was auf mich von Einfluß gewesen wäre. Was da kam, das kam von selbst, es lag in mir, in meinem Naturell, in meinem Bestreben, abzugehen von der Schablone.“ Der Artikel, dem das Zitat entstammt, kommt in der Folge auch auf das Grabmal Strauß und dessen Entstehungsgeschichte zu sprechen: „Ganz unbewußt kam Fräulein Ries zu dieser seltsamen Schöpfung, die mir schon auf dem Zentralfriedhof als ganz der italienischen Schule entwachsenes Campo santo-Ornament auffiel. Sie sah einen jungen Menschen im Ballsaal, hörte dann von seinem Tode und entschloß sich auf Bitten der Eltern, ihm ein Grabmal zu komponieren. Da sie gerade einmal daran dachte, wie schön es für einen Künstler sei, derlei Aufgaben zu vollenden, zog sie den Modellierton empor und sah die Umrisse des Denkmals vor sich, die aufwärts schwebende Seele und Gott Vater, der sie liebevoll zu sich nimmt.“ Doch auch über den hier ausgesprochenen Vergleich mit der ‚italienischen Schule‘ zeigte Ries sich nicht sonderlich angetan: „Man sagt, daß ich den Künstlern der italienischen Friedhöfe nahe stehe, aber ich kenne die heiligen Stätten nicht, ich war nie in Mailand und nie in Genua, es muß also nur so unbewußt sein …“, hielt sie im selben Gespräch fest.5
Aussagen wie diese sind freilich stets mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Unter den Künstler:innen der Moderne zählt(e) es zu den Standardpraktiken der Selbstmythisierung, äußere Einflüsse kategorisch abzustreiten und das eigene Schaffen ganz aus dem individuellen inneren Antrieb zu erklären. Ein prominentes Beispiel ist etwa Oskar Kokoschka, der 1913 ausrichten ließ, er habe „niemandem nie nichts nachgemacht“, und der bald darauf begann, sein Frühwerk nachträglich um zwei bis drei Jahre vorzudatieren, um augenscheinliche Abhängigkeiten von Künstlern wie Max Oppenheimer oder Picasso leugnen zu können.6 Man wird also gut daran tun, auch den Äußerungen von Ries in dieser Hinsicht mit ähnlicher Skepsis zu begegnen wie vergleichbaren Statements ihrer männlichen Kollegen. Bemerkenswert ist dabei jedoch, dass der Mythos vom autark und unbewusst schaffenden Künstler historisch betrachtet eng an eine spezifisch männliche Vorstellung von ‚Genie‘ gebunden war, dass Ries also auch hier, in ihrem Selbstverständnis als Künstlerin sich eine Rolle ‚anmaßte‘, die ihr als Frau keineswegs selbstverständlich zugestanden wurde.

Um abschließend noch einmal auf das Grabdenkmal für einen Jüngling zurückzukommen, will ich diesen Beitrag mit einem längeren Zitat des Schriftstellers und Kunstkritikers Franz Servaes beenden. Im März 1903 verfasste Servaes für die Neue Freie Presse eine Besprechung der erwähnten Secessions-Ausstellung und widmete darin der Ries’schen Grabskulptur breiten Raum. Seine begeisterten Worte zeugen auf beredte Weise vom hohen Stellenwert der Bildhauerin in der Wiener Kunstszene ihrer Zeit:
„In Stein steht bereits das große Werk, mit dem Theresa Feodorowna Ries ihren Künstlerruf noch dauerhafter als bisher fundamentiert hat, ein Grabdenkmal für einen Jüngling. Der Gedanke, der diesem Grabmal zu Grunde liegt, ist von verblüffender Großartigkeit, die Ausführung, wenn auch von Einwirkungen Rodin’s nicht frei, ebenso kühn als zwingend. Mit allen Conventionen hat die Künstlerin in genialer Weise gebrochen, alle Grabengel und Urnenträger hat sie beiseite gelassen – aber sie hat nicht blos etwas Altes verlassen, sie hat auch etwas Neues, Gewaltigeres dafür gefunden. Nicht den Abschied von der Erde, nicht das trauervolle Ende schildert sie, sondern einen strahlenden Neubeginn, die Vereinigung der Seele mit Gott. Und für diesen mystisch-religiösen Gedanken fand sie eine einfach-klare und packende Form. Ein nackter Jüngling schwebt sehnend empor – in der Haltung der Beine, der gekrümmten Arme und des zurückgebeugten Hauptes ist das Emporschweben illusionskräftig ausgedrückt – und oben empfängt ihn eine wolkige Hand, die sich auf seinen Nacken legt, und ein wolkiges Haupt beugt sich liebreich zu ihm nieder, als wollte es ihm den Kuss der Verklärung auf die Stirn drücken. Wie das im Stein da vor uns steht, wirkt es schier wie ein Wunder. Der Stein selber wandelt sich langsam in ein wolkiges Gebilde, und das wolkige Gebilde in eine menschliche Gestalt von riesenhafter Erscheinung, doch von unendlicher Güte. Es ist als ob das Chaos Form annehme und, von Liebe durchdrungen, sich als Gottheit offenbare. (…) Und wie wunderbar ist die innige Verbindung beider Gestalten, des Menschen und des Gottes! Wie fühlt man, dass der Mensch, in die Arme Gottes gleitend, gleichsam in seine ewige Heimat zurückkehrt – von Trost, von Beruhigung, von seliger Verklärung durchdrungen und erfüllt! Darum ist auch der religiöse Gehalt dieses Kunstwerkes so mächtig – wahrhaft religiös – gerade weil er über allen geschriebenen Religionssatzungen steht und einfach aus dem tiefsten Grunde des Menschlichen, aus dem Urboden der Gefühls- und Sehnsuchtsmächte emporsteigt. Mit diesem Werke hat die Künstlerin Ries Alles übertroffen, was sie bisher geleistet hat, und sich beherzt in die Reihe der großen Bildhauer unserer Zeit gestellt.“7

Quellen / Lektüreempfehlungen
Ausführlichere, teils illustrierte Beschreibungen von Leben und Werk Teresa Feodorowna Ries’ bieten:
- der Wikipedia-Eintrag zur Künstlerin
- Valerie Habsburgs Aufsatz The Sculptor Teresa Feodorowna Ries and her Private Archive
- Anka Leśniaks Aufsatz Teresa Feodorowna Ries and The Witch
- Andrea Winklbauers Beitrag über die Hexe bei der Toilette für die Walpurgisnacht im Blog des Jüdischen Museums, Wien
1. Teresa Feodorowna Ries, Die Sprache des Steines, Wien 1928, S. 13.
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2. Zum Verhältnis von Ries zu ihrem Lehrer Hellmer vgl. Marlies Mörth, Edmund Hellmer und die Bildhauerschule an der Akademie der bildenden Künste in Wien, Masterarbeit Universität Wien 2012, S. 60–65 [Digitalisat].
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3. Katalog der 1903, Wien 1903, S. 36 [Digitalisat].
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4. Vgl. exemplarisch das Urteil X. von Gayrspergs im Neuigkeits-Welt-Blatt: „Ein mächtiger Steinblock zeigt, daß Rodin Schule macht. Theresia [sic] Ries hat die Kühnheit gehabt, ihm nachzuempfinden. Ihr großes Talent durfte es wagen und man wird nicht ohne Interesse das Grabdenkmal für einen Jüngling betrachten.“ (Neuigkeits-Welt-Blatt, 29. März 1903, o. S. [digital auf ANNO]).
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5. Die wörtlichen Zitate in diesem Absatz stammen aus: Teresa Feodorowna Ries (Wiener Porträts CLXXXVIII), in: Neues Wiener Journal, 4. März 1906, S. 2–3, hier S. 3 [digital auf ANNO].
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6. Vgl. Régine Bonnefoit, Kunsthistoriker vom Künstler zensiert – am Beispiel der Kokoschka-Monographie von Edith Hoffmann (1947), in: Beate Böckem, Olaf Peters u. Barbara Schellewald (Hg.), Die Biographie – Mode oder Universalie?, Berlin u. Boston 2016, S. 169–182, bes. S. 176–182.
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7. Franz Servaes, Secession, in: Neue Freie Presse, 31 März 1903, S. 1–3, hier S. 2 [digital auf ANNO].
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